Die Elenden von Lódz
Polizisten mit der Kolonne Schritt. Ab und an erteilt einer von ihnen einen barschen Befehl, um die Marschrichtung vorzugeben.
Geradeaus!
oder
Rechts um!
Darüber hinaus ist nichts zu hören. Männer in ihren neuen Holzschuhen ziehen an ihm vorüber, Taschen, Koffer und Matratzen um die Taille gebunden oder auf den Schultern, und nicht einer von ihnen macht Miene, sich auch nur umzudrehen und ihn anzuschauen. Auch er dreht sich nicht nach ihnen um. Es ist, als bewegten sie sich in zwei weit voneinander getrennten Welten.
Erneut aber kehrt der Name seines Onkels Lajb wie ein hartnäckig bohrender Zahnschmerz wieder. Adam weiß, dass sein Vater recht hat und er froh sein sollte über die Arbeit, die er bekommen hat. Zugleich aber lässt ihm der Gedanke keine Ruhe, dass es wohl kaum Zufall war, dass in der Radogoszczer Arbeitsbrigade plötzlich ein Platz frei war. Warum hat Lajb ihm von den vielen Arbeitsmöglichkeiten im Getto gerade diese angeboten? Und von den vielen Menschen, die er früher gekannt oder deren Bekanntschaft er im Getto gemacht hat, warum war es ausgerechnet der alte Biełka gewesen, der zwischen den Güterwaggons aufgetaucht war? Konnte es sein, dass man ihn mit einem Auftrag betraut hat, den ursprünglich ein anderer hatte? Und wer ist dieser andere gewesen, und was ist mit ihm geschehen?
Als Adam Rzepin sich schließlich umdreht, ist die Marschkolonne |226| verschwunden; nur die aufgewirbelte kalkweiße Wolke hängt noch immer wie eine dünne Staubschicht vor dem sonnendurchtränkten Horizont. Die Sonnenscheibe ist nun höhergestiegen. Die Hitze sticht in Sand und Schotter und Stein. Adam Rzepin hat Wurst im Magen. Er beschließt, nicht länger über die Sache nachzudenken.
|227| Es hatte wie ein Spiel begonnen. Er hatte gesagt: Mach die Augen zu, stell dir vor, ich bin jemand anders. Regina hatte ihr helles Lachen ertönen lassen und gesagt, er werde sich doch wohl nicht
herablassen
. Er sei doch der Präses. Das ganze Getto schaue zu ihm auf. Er aber hatte darauf bestanden. »Mach die Augen zu«, hatte er gesagt, und als sie es zu guter Letzt endlich tat, hatte er die Handfläche auf ihr Knie gelegt und sie dann langsam die Innenseite ihrer Schenkel hinaufwandern lassen.
Auch so kann Liebe aussehen.
Er wusste, dass sie sich ekelte beim Anblick seines alternden, beleibten Körpers, vor dem widerlichen Altmännergeruch, den Haut und Haar verströmten. Nun befreite er sie von dem Zwang, all dies aus nächster Nähe zu erleben, und wurde mit dem Geschenk belohnt, mit seinen armseligen, ängstlich knetenden Fingern ihr Geschlecht anschwellen und feucht und warm werden zu spüren.
Wer war es wohl, von dem sie träumte hinter ihren geschlossenen Lidern?
Auch die Geschichte einer Lüge kann geschrieben werden:
Zu den Gettobewohnern sagte er, er habe all das, was er gesagt habe, nicht gesagt, und alles, was passiert sei, sei nicht wirklich passiert. Und die ihm zuhörten, glaubten ihm, denn trotz allem war er schließlich der Präses des Gettos, und so sehr viele andere, denen man zuhören und glauben konnte, gab es nicht.
Zu den kopflosen Frauen aus Pabianice und Biała Podlaska sagte er, »von allerhöchster Stelle« habe man ihm versichert, dass mit ihren Ehegatten alles zum Besten stehe und dass er in ihrem Namen eingreifen und dafür sorgen werde, dass ihre Kinder umgehend nach Łódź gebracht würden.
|228| Und zu seinem Bruder Józef, der sich seit Beginn der Deportationen schwer ängstigte, sagte er, er selbst genieße das volle Vertrauen des Reichsstatthalters und dass den auserwählten Juden im Getto niemals etwas Böses zustoßen werde.
Und der große Chaim ging in seiner Lüge umher wie ein Kaiser in seinem Palast. In jeder Türöffnung standen Bedienstete, fielen auf die Knie und fragten, ob sie noch mehr für ihn tun könnten. Was wird dann aus der Lüge, wenn sie die natürliche Konsequenz des eigenen Seins ist?
Zweifel und Unglauben, sagte Rumkowski, sind für die Schwachen da.
Am Sabbat zündete Regina die Sabbatkerzen an und stellte die Brote bereit, und an jedem Freitagabend, wenn sie zu Tisch saßen, sprach er die Sabbatgebete, weil das von einem guten Juden in einem Haus verlangt wurde, das nach seinem Wunsch als Beispiel für alle anderen im Getto dienen sollte. Sonntags fuhren sie mit der
droschke
zum Krankenhaus in der Wesoła. Dort hatte er »aus eigener Tasche« einen Zimmerplatz und zwei volle Mahlzeiten für Reginas unverheiratete Tanten und ihren
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