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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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mit feinem Kies oder Sand gefüllt und mit vertrockneten Pflanzen, andere sind leer. Während sein Blick an dieser unerfindlichen Glaswand haftet, wird sie plötzlich in Brand gesteckt. Irgendwo tief drinnen in dem Labyrinth einander dunkel reflektierender Glasscheiben bohrt sich eine Nadel aus Licht hindurch, breitet sich aus und bricht als brennende Kugel hervor – das Licht unversehens so scharf in den Augen, dass sich alles im Blickfeld unmittelbar auflöst.
    Es ist die Sonne, die jenseits der Treibhauswand am Himmel emporsteigt.
    Du musst doch völlig ausgehungert sein
, sagt Feldman und weist auf eine Ecke am Fußboden, wo eine Matratze und eine schäbige alte Pferdedecke liegen.
    Setz dich …
    Als Adam sich setzt, sinkt das Morgenlicht in den Schatten zurück, und die Glaswand wirkt nicht mehr so eindrucksvoll wie soeben: eine Ansammlung verschmierter Aquarien, die Böden mit gräulichem Schlamm bedeckt und die Wände bleich von eingetrocknetem Staub.
    Später sollte Feldman erzählen, dass er in jungen Jahren mit Kescher, Pflanzentrommel, Gläsern und Behältern durch die masurischen Waldgebiete gewandert war, fest entschlossen, jeden Vegetationsplatz im gesamten Seensystem zu erkunden. Und wie sich dieses Interesse ausgeweitet hatte, als er zu Beginn der dreißiger Jahre mit Luft- und Wärmeaggregaten zu experimentieren begann, um auch andere lebende |224| Biotope im Miniaturformat nachzubilden: brasilianische Regenwälder, ausgetrocknete Wüstenlandschaften, Steppen und Prärien.
    Es gab eine Zeit, in der ich wie besessen war von dem Gedanken, jede Landschaft und jede Bodenart, die es auf der Erde gibt, zu rekonstruieren. Doch dann kamen der Krieg und die Okkupation, und vielleicht kann man sagen, da war mir das, was ich hier bin und habe, genug.
    Feldman legt die fertiggebratene Wurst auf einen Teller und macht sich daran, sie in kleinere Stücke zu schneiden. In Adams Hirn läuft eine komplizierte Rechenoperation ab. Können es fünfzig, nein, es müssen wohl fast sechzig Gramm Wurst sein, die jetzt auf seinem Teller liegen. Wie lange kann er die Wurst im Magen behalten? Zehn Stunden, zwölf?
    Es hängt davon ab, wie langsam er sie isst.
    Jetzt, als sie dichter am Feuer sitzen, sieht er, dass Feldman bedeutend jünger ist, als es zunächst den Anschein hatte. In dem dunklen Gesicht verbergen sich hellere Hautfalten; so als wäre die von Wind und Wetter gegerbte Haut nur eine Maske, gepresst auf das darunterliegende Gesicht. Der Blick aus diesem
anderen
Gesicht ist jungenhaft hell, unerschrocken und auf seltsame Weise berechnend. Adam sollte hinterher sagen, dass Feldmans Art, die Leute anzusehen, den Eindruck erweckte, als nähme er vor ihrer Beerdigung Maß. Mit diesem Ausdruck blickt er Adam nun an.
    Da war einer, der die Zeitungen vorher gebracht hat. Weißt du, was mit ihm passiert ist?
Adam kaut seine Wurst; erwidert nichts.
Rzepin?
, sagt Feldman darauf, so als wollte er prüfen, wie der Name schmeckt. Adam kaut einfach weiter.
Es wundert mich, dass Lajb einen seiner eigenen Leute zum Laufburschen macht. Womit hat er dich in der Hand?
Adam dreht sich um und sagt:
Einer, der Biełka heißt, hat mich gefragt, das ist alles, was ich weiß.
    Feldman sieht ihn noch immer an, als erwarte er, dass Adam weiterspricht, jetzt, wo er endlich den Mund aufgemacht hat. Als nichts mehr kommt, dreht er sich mit einem Seufzer zurück, der sich durch den ganzen Körper fortzupflanzen scheint, streckt einen überraschend langen Arm aus dem Rockärmel und stößt einen Holzklotz in die Glut, der im Herd die Funken stieben lässt.
    |225| Adam sitzt noch immer auf seinem Platz und kaut, bis keine Wurst zum Zerkauen mehr da ist. Als kein Essen mehr kommt, begreift er, dass es höchste Zeit ist, sich zu bedanken.
Komm mich gern wieder besuchen
, sagt Feldman, doch in einem Tonfall, als hätte er plötzlich jedes Interesse an Adam und der mitgebrachten Schmuggelware verloren.
     
    Kaum ist Adam wieder in das überraschend starke Mittagslicht hinausgetreten, als ihm bereits eine erste Kolonne Deportierter begegnet, die aus dem Sammellager in der Młynarska kommen.
    Die Marschierenden sind mit neuen, maschinell hergestellten
trepki
ausgestattet, und die flinken Holzschuhe wirbeln den Straßenstaub zu einer gigantischen Wolke auf, die den Zug gleichsam in einen bleichen, kalkweißen Schleier hüllt, der sich hinter ihren emsig trappelnden Füßen nur langsam wieder senkt. Links von ihnen halten die fünf sie begleitenden

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