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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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der ohne Umschweife das Neueste wiedergab, was ihm über die Vorbereitungen von Massendeportationen aus Warschau zu Ohren gekommen war. In Warschau hielt man 300   000 Juden gefangen. Gertler zufolge beabsichtigten die Behörden nur ein Zehntel von ihnen, knapp 30   000, zu schonen, die weiter in den Gettofabriken tätig sein sollten.
    Zur selben Zeit intensivierten die Engländer ihre Luftangriffe auf strategische Städte im Reich –
Köln
,
Stuttgart
,
Mannheim
. Am 26. Juni |231| strahlte der britische Rundfunk zum ersten Mal die Nachricht über die Massaker an der jüdischen Bevölkerung Polens aus. In den Sendungen der BBC wurden Städte wie
Slonim
,
Wilna
und
Lwów
genannt.
    Aber auch
Chełmno
– die Stadt
Kulmhof
im Bezirk
Warthbrücken
:
     
    Tausende Juden aus der Industriestadt Łódź und umliegenden Städten und Dörfern hat vermutlich an diesem ansonsten unansehnlichen Ort ihr Schicksal ereilt.
     
    Diese Nachrichten von jenseits der Drähte erreichten das Getto durch Hunderte illegaler Rundfunkempfänger, und was bisher nur ein makabrer Verdacht war, wurde rasch zur vollen Gewissheit.
    Nach außen hin geschah natürlich nichts. Die hungernden Männer und Frauen des Gettos schleppten ihre ausgemergelten Leiber weiter von Verteilungsstelle zu Verteilungsstelle; bereits gekrümmte Rücken wurden, wenn möglich, noch krummer. Nun aber gab es Gewissheit, wo es zuvor keine gegeben hatte. Und diese Gewissheit änderte alles.
    Am Morgen nach der Nachricht der BBC über die Massaker in Chełmno führte der Präses des Gettos eine Inspektion des Statistikbüros am Plac Kościelny durch. Gemeinsam mit Herrn Neftalin, dem Juristen, ging er sämtliche vorhandenen Korrespondenzen durch und ließ alle Dokumente verbrennen, die einer eventuellen Nachwelt den Eindruck hinterlassen konnten, dass er den Befehlen der Behörden allzu rasch nachgekommen war oder sich deren wirklichen Inhalt nicht eingestanden hatte. Das betraf beispielsweise die Frage, wie mit dem überflüssigen Gepäck, das man den deportierten Juden abgenommen hatte, zu verfahren war, für das Biebow die Übernahme der Frachtkosten abgelehnt hatte. Stattdessen bat Rumkowski, dass Rechtsanwalt Neftalin einen besonderen Archivposten einrichten möge, aus dem nicht nur hervorging, wer deportiert worden war, sondern auch, wem man eine
Ausnahmeregelung
zugestanden hatte, also bei welchen Personen er persönlich tätig geworden war, um sie zu retten, oder für die er sich auf andere Weise verbürgt hatte.
    Diejenigen, die dem Ältesten in jener Zeit nahe kamen, berichteten, dass sich sein Körpergeruch verändert hatte. Es war, als würde er einen |232| stechenden, leicht süßlichen Geruch absondern, der wie nicht ausgelüfteter Tabakrauch in der Kleidung festsaß und ihm folgte, wohin er auch ging. Zugleich bezeugten fast alle, die ihn in jenen Tagen sahen, dass er mit großer Unerschütterlichkeit und Würde ausschritt. So als hätte er erst jetzt, mit all der praktischen Handhabung von großen Menschenmassen in Sammellagern oder Statistikkolonnen, einen Bewegungsablauf gefunden, der dem kolossalen Auftrag, den er zu dem seinen gemacht hatte, gerecht wurde.
    *
    Am 24. Juli kam die Nachricht vom Selbstmord Czerniakóws in Warschau:
     
    Dieser feige Mann stirbt also lieber, als dass er bei der Aussiedlung der Juden des Warschauer Gettos mitwirkt. Dennoch verlassen nach allem, was ich beurteilen kann, Tag für Tag weiterhin Tausende von Juden Warschau. Wenn Czerniaków also diese Aktion hatte stoppen wollen, ist durch seinen Selbstmord nichts geändert worden. Dieser ist nur eine sinnlose, ohnmächtige Geste.
     
    So fasst er die entstandene Situation für die übrigen Mitglieder seines Ältestenrates zusammen.
    Etwas Ähnliches wie das, was jetzt in Warschau geschieht, wird hier nicht geschehen können, versichert er. Das hier ist schließlich kein Getto – es ist eine Arbeiterstadt, sagt er, und benutzt ungewollt denselben Ausdruck wie an jenem Tag, als er Himmler vor dem Barackenbüro am Bałucki Rynek empfangen hatte:
     
    Das hier ist eine Arbeiterstadt, Herr Reichsführer, kein Getto.
    *
    |233| Seinem Leibarzt, Doktor Eliasberg, gesteht er, dass ihm das Herz aufs Neue zu schaffen mache, und er fragt, ob Eliasberg nicht wieder etwas von diesem Nitroglycerin beschaffen könne? Eliasberg besorgt ihm nicht nur mehr Nitroglycerin; er bringt auch eine andere Herzmedizin mit: kleine Ampullen mit weißen glänzenden Pillen wie die Saccharintabletten, die

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