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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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breiten Schultern und kräftigen Schenkeln: doch flink. Er fährt wie ein Wirbelwind über den Boden und schlägt seine ausgestreckte Hand überall dort hinunter, wo die weißen Tabletten gelandet sind.
    Da und da und da!
, wiehert der Präses entzückt.
    Doch, genau wie Samstag, lacht auch der Älteste nur mit dem unteren Teil seines Gesichts. Unterhalb der Augen verläuft ein scharfer, tödlicher Schnitt. Außer dem energischen Jungen, der nach den Zuckerpillen jagt, wagt keins der Kinder näher zu kommen. Sie stehen nur verzagt da, den Finger im Mund.
     
    Der Junge heißt Stanisław. Anfang Mai war er mit einem Transport aus Aleksandrów gekommen. Mutter und Vater, Schwestern und Brüder (er hatte mindestens sieben davon) waren alle tot. Doch das weiß er vermutlich nicht. Oder weiß er es?
     
    |236|
Hallo ty tam, podejdź tutaj.
    »Du dort, komm her!«
    Er sagt es auf Polnisch, was sofort erkennen lässt, dass er Staszek als eins der neuen Kinder identifiziert.
    Und als sich der Junge widerstrebend der Kalesche nähert, streckt er den Arm aus dem Wagen und greift ihm mit seiner behandschuhten Hand unters Kinn.
    Powiedz mi, ile żeś podniósł?
    Staszek öffnet die Faust und zeigt eine Handvoll weißer Pillen. Es ist unmöglich zu sehen, welche davon Zyanidtabletten sind und welche normale Saccharinpillen. Gänzlich unmöglich: Auch er selbst hätte sie nicht unterscheiden können. Und der Älteste lacht sein lautes Lachen. Er will, dass es weit zu hören ist, wie sehr ihm die Leistung des Jungen imponiert.
    Im selben Augenblick ertönt ein kräftiger Donnerschlag über der Landschaft, und kurz darauf geht ein Wolkenbruch auf sie nieder.

 
    |237| Die Aktion begann um fünf Uhr morgens am 1. September 1942, dem Jahrestag des deutschen Einmarschs in Polen.
    Eine reichliche halbe Stunde später erhielt Polizeichef Leon Rozenblat den Befehl zur Mobilisierung des Getto-Ordnungsdienstes. Da waren die Transportfahrzeuge des Heeres bereits beim Bałucki Rynek vorgefahren: schwere Lastwagen mit hohen Ladeflächen, von derselben Art wie jene, die in den Nächten zuvor Schuhe und Säcke mit blutiger und verschmutzter Kleidung ins Getto gebracht hatten. Dazu noch etwa ein halbes Dutzend Traktoren, an die Anhänger gekoppelt waren: zwei oder drei an jedes Fahrzeug.
    Im fahlen Morgenlicht waren einige der Holzzäune und Stacheldrahthindernisse, die an den Ausfallstraßen Zgierska und Lutomierska entlangführten, abgebaut, neue Sperren errichtet und die regulären Wachmannschaften der Schupo durch die Gestapo verstärkt worden.
     
    Während all das ablief, lag der Judenälteste des Gettos im Bett und schlief.
    Er schlief und träumte, ein Kind zu sein.
    Oder richtiger gesagt: Er träumte, er wäre er selbst und
zugleich
ein Kind.
    Das Kind und die Person, die er war, wetteiferten darum, mit Steinen nach Flaschendeckeln zu werfen. Das Kind warf seinen Deckel in die Luft, und er zielte mit dem Stein danach. Eine Weile später merkte er, dass er Schwierigkeiten mit dem Sehen bekam. Im gleißenden Sonnenlicht schleuderte das Kind den Deckel immer weiter fort, und in seinen eigenen Händen wuchs der Stein, den er werfen wollte, wurde schwer und groß wie ein Schädel, und am Ende konnte er ihn selbst mit beiden Händen nicht umfassen.
    Plötzlich verspürte er übermächtige Angst. Das Spiel war kein Spiel |238| mehr, sondern ein groteskes Kräftemessen zwischen den zweien, die beide er selbst waren.
    Direkt in dem Augenblick, als er den riesigen Stein von sich werfen wollte, packte ihn jemand am Arm und sagte:
     
    Was glaubst du, wer du bist? Schämst du dich nicht für deinen Hochmut?
     
    Da war bereits das Dröhnen der dieselbetriebenen Lastwagenmotoren und das Rasseln der Eisenketten zu hören, die sich klirrend hoben und spannten, als die daran gekoppelten Anhänger langsam auf den Gettostraßen in Bewegung kamen.
    *
    Im Nachhinein sollte er sagen, was ihn gegrämt habe, sei nicht die Säuberungsaktion als solche gewesen; auf die hätten ihn die Behörden trotz allem vorbereitet. Was ihn gegrämt habe, sei, dass eine Aktion
solchen Ausmaßes
in Angriff genommen und stundenlang durchgeführt werden konnte,
ohne dass auch nur ein Einziger auf den Gedanken gekommen sei, ihn anzurufen und davon zu unterrichten.
    Es war schließlich trotz allem
sein
Getto. Sie waren verpflichtet, ihn zu informieren.
    Fräulein Fuchs sollte später erklären, dass, als der Befehl im Sekretariat eingetroffen war, alle davon ausgegangen seien,

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