Die Elenden von Lódz
die Kinder an den Straßenecken verkaufen.
Für einen Ausgehungerten kann auch das kleinste Körnchen Zucker auf der Zunge einen Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Der Gedanke lässt ihn merkwürdig euphorisch werden. Er verwahrt die kleinen Zyanidtabletten in einem Blechschächtelchen in der Jacke und steckt unentwegt die Hand in die Tasche, um sich zu vergewissern, dass sie noch da sind.
Er denkt nie daran, wie es wäre, die Tabletten selbst zu nehmen. Stattdessen sieht er sich zwei davon in Reginas Tee verrühren. Sie wird das Gesicht aufgrund des bitteren Geschmacks verziehen, zu mehr aber wird sie nicht kommen. Der Tod tritt augenblicklich ein. Das hat ihm Doktor Eliasberg versichert.
Wie konnte er überhaupt an so etwas denken, wo er seine Frau doch so ungemein liebt? Die Antwort war, genau aus diesem Grund, eben weil er sie so über alle Maßen liebt. Er würde die Schande nie ertragen, mittellos und erniedrigt vor ihr zu stehen. Wie Czerniaków, der Vorsitzende des Warschauer Judenrates, der nicht begriffen hatte, was es hieß, Befehle zu befolgen.
»Czerniaków war schwächer als ich«, sagte der Älteste. »Deshalb ist er jetzt tot.«
Er lag ausgestreckt vor Doktor Eliasberg, der seinen Herzrhythmus kontrollierte.
»Er hat sich lieber das Leben genommen, als seine Brüder und Schwestern nach Osten zu schicken.«
Doktor Eliasberg schwieg.
»Hier wird das nie passieren«, sagte der Älteste.
(Meine Kinder nähen Tarnmützen für den Kampf im Wintergelände. Hier kann es unmöglich passieren.)
Doktor Eliasberg schwieg.
|234| »Aber wenn es hier passieren sollte, will ich, dass Sie mir eins versichern, Doktor Eliasberg …«
»Sie wissen, dass ich keine Versicherungen abgeben kann, Herr Präses.«
»Aber wenn ich sterben sollte …?«
»Sie werden niemals sterben, Herr Präses.«
*
Auf dem großen abgenutzten Rasenplatz hinterm Grünen Haus versammeln sich die Kinder aus dem Marysiner Kinderheim zu Ringelspielen.
Ihr Lachen hallt unter dem harten schwarzen Himmel.
Die Kinder stellen sich hintereinander auf, fassen den Vordermann bei den Händen, heben sie hoch über die Schultern und gehen einer hinter dem anderen her. Dann schließt sich die Reihe zum Kreis, der sich langsam zu drehen beginnt, erst in die eine Richtung, dann in die andere.
Er sitzt in seinem Wagen, und sein Blick folgt ihnen. Er will sich nicht gleich zu erkennen geben, um ihnen das Spiel nicht zu verderben.
Die jüngeren Kinder stolpern und fallen, die älteren lachen. Samstag, der deutsche Junge, der ihm bei seinem letzten Besuch aufgefallen ist, lehnt an einem verrosteten Autochassis ohne Räder. Er trägt eine kurze Hose, die zu einem zehn Jahre jüngeren Kind gepasst hätte, und einen gerippten Strickpullover, der ihm nur bis kurz über den Nabel reicht. Er lächelt ununterbrochen, doch ohne sichtbare Freude: so als wäre sein Mund herausnehmbar, säße nur lose in dem großen Gesicht. Überall in Marysin wächst das Gras üppig und hoch. Auf den Hinterhöfen: zwischen Bretterschuppen und Latrinen. Die Kinder essen vom Gras. Deshalb sind ihre Lippen schwarz beschmiert.
Er darf nicht vergessen, über diese Sache mit Fräulein Smoleńska zu reden. Das Gras kann Gift enthalten.
Er wartet. Noch haben sie ihn nicht entdeckt. Am Himmel mehren sich die Wolken und verschmelzen zu dünnen Schleiern dichter werdenden Regendunstes. In der Ferne ist Grollen zu hören. Gewitter zieht auf. Bald werden die ersten Tropfen fallen.
|235| Die Kinder schauen nach oben …
Er steckt die Hand in die Jackentasche, drückt mit dem Fingernagel den Deckel der Schachtel mit den Zyanidtabletten auf und vermischt alles mit den Fingern.
Die Tropfen fallen nun dichter. Von der Gewitterwand ist ein dumpfes Rumpeln zu vernehmen, als er Kuper bittet, den Wagen näher heranzufahren. Die Kinder stehen mit dem Finger im Mund und starren auf das Pferd und den Wagen und den alten Mann, der mit der Hand in der Jackentasche dasteht wie eine Erscheinung aus einer anderen Zeit.
Er sieht, dass sie sehen, und wird offenbar verlegen:
Spielt doch weiter
, ruft er,
ab mit euch
, sagt er lachend – und als sich die Kinder nach einem Blick auf Fräulein Smoleńska fast widerwillig in Bewegung setzen, schöpft er mit der Hand die Tabletten aus der Tasche und wirft sie allesamt zum Himmel hinauf –
Und hei juchhei, und hei juchhei …
Aus der Menge löst sich eins der Kinder. Der Knabe ist vielleicht zehn Jahre alt; kompakt gebaut, mit
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