Die Elfen
Gesicht an Nuramons Schulter, während dieser Farodin ansah und dessen gefrorene Miene gewahrte. In seinen Zügen fand er keine Träne, keine Regung, kein noch so kleines Zeichen der Trauer. Nuramon selbst konnte kaum fassen, was Obilee gesagt hatte. Es war zu viel, um es auf einmal zu verkraften.
Farodin aber sah in Nuramons Zügen all das, was er im Innersten spürte, all die Tränen und all die Qual. Ihm schien es so, als wären seine Gefühle vom Körper getrennt. Er stand da und wusste nicht, wieso er nicht weinen konnte.
Es dauerte lange, bis Obilee die Fassung wiedergewann. »Verzeiht mir! Ich hatte nicht gedacht, dass es so qualvoll sein würde. All die Jahre trug ich diese Worte in mir; Worte, die Noroelle zu einem Kind sprach und die ihr nun von einer Frau vernahmt.« Obilee wandte sich von den beiden ab und trat zum Rand der Terrasse. Dort nahm sie etwas von der Brüstung und kehrte dann zu ihnen zurück. »Ich habe ein letztes Geschenk von Noroelle für euch.« Sie öffnete die Hände und zeigte ihnen einen Almandin und einen Smaragd. »Es sind Steine aus ihrem See. Sie sollen euch an sie erinnern.«
Farodin nahm den Smaragd und dachte an den See. Noroelle hatte ihm einmal gesagt, die Steine würden unter dem Zauber der Quelle wachsen.
Nuramon tastete nach dem Almandin in Obilees Hand. Er zögerte und strich mit den Fingerspitzen über die glatte Oberfläche des rotbraunen Steins. Er spürte Magie. Es war Noroelles Zauberkraft.
»Ich spüre sie auch«, sagte Obilee. »Auch mir hat sie ein solches Geschenk gemacht.« Die Elfe trug einen Diamanten an einer Kette am Hals.
Nuramon nahm den Almandin in die Hand und fühlte dessen sanfte Magie. Das war alles, was ihm von Noroelle geblieben war: die Wärme und der Zauberhauch dieses Geschenks.
Obilee zog sich zurück. »Ich muss nun fort«, sagte sie. »Verzeiht mir! Ich muss mit mir allein sein.«
Farodin und Nuramon blickten ihr nach, als sie die Terrasse verließ.
»Dreißig Jahre hat sie diesen Schmerz in sich getragen«, sagte Nuramon. »Wenn uns diese wenigen Tage wie eine Ewigkeit vorkamen, dann hat sie tausende von Ewigkeiten durchlebt.«
»Das also ist das Ende«, sprach Farodin. Er konnte es nicht fassen. Alles in seinem Leben war auf Noroelle gerichtet gewesen. Er hatte sich viel vorstellen können: Dass er sterben würde, dass Noroelle Nuramon wählte, aber nie und nimmer hätte er damit gerechnet .
»Das Ende?« Nuramon schien nicht bereit, es hinzunehmen. Nein, dies war nicht das Ende. Es war der Anfang, der Anfang eines unmöglichen Weges. Auch wenn es hieß, dass man sein Schicksal nicht zu oft herausfordern sollte, würde er alles tun, um Noroelle zu finden und zu befreien. »Ich werde mit der Königin sprechen.«
»Sie wird dich nicht anhören.«
»Das werden wir sehen«, erwiderte Nuramon und wollte gehen.
»Warte!«
»Warum? Was habe ich noch zu verlieren? Und du solltest dich fragen, wie weit du für sie zu gehen bereit bist!« Mit diesen Worten verschwand Nuramon in der Burg.
»Bis ans Ende aller Welten«, flüsterte Farodin vor sich hin und dachte an Aileen.
DREI GESICHTER
Das Tor zum Thronsaal stand offen. Nuramon sah am anderen Ende die Königin bei ihrer Wasserschale stehen. Er wollte eintreten, doch Meister Alvias stellte sich ihm in den Weg. »Wo willst du hin, Nuramon?«
»Ich möchte mit der Königin über Noroelle sprechen und sie um Milde bitten.«
»Du solltest diese Halle nicht im Zorn betreten!«
»Fürchtest du, ich könnte meine Hand gegen Emerelle erheben?«
Meister Alvias sah an ihm herab. »Nein.«
»Dann gib den Weg frei!«
Alvias blickte zur Königin, die kurz nickte. »Sie wird dich empfangen«, sagte er widerstrebend. »Doch bezähme deine Gefühle!« Mit diesen Worten trat er zur Seite.
Während Nuramon Emerelle entgegeneilte, hörte er, wie hinter ihm das Tor geschlossen wurde. Die Königin trat vor die Stufen zu ihrem Thron. In ihrem Antlitz spiegelten sich Ruhe und Güte. Nie hatte Emerelle für ihn so sehr die Mutter aller Albenkinder verkörpert.
Nuramon spürte, wie sein Zorn verebbte. Die Königin stand schweigend da und blickte ihn an wie in jener Nacht, da sie ihn in seinem Zimmer besucht und ihm Mut zugesprochen hatte. Er musste an den Orakelspruch denken, den sie mit ihm geteilt hatte und der ihm so viel bedeutete.
»Ich weiß, was du denkst, Nuramon. Ich schätze an dir, dass du noch nicht gelernt hast, deine Gefühle zu verbergen.«
»Und ich habe bislang deinen Sinn für
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