Die elfte Jungfrau
entfaltet.«
Meister Krudener nickte beifällig.
»Womit wir bei dem uralten Phänomen des Erkennens sind - wer das Muster erkennt, weiß, welches Prinzip sich dahinter verbirgt. Oder, wer das Prinzip kennt, kann das Muster vorhersagen. Man muss immer beides erkennen und wissen, um die Zusammenhänge herauszufinden und die Folgen ableiten zu können. Tragen wir also unser Wissen zusammen und hoffen auf Erkenntnisse. Neun Jungfrauen sind in den vergangenen acht Monaten umgekommen, richtig?«
»Neun Jungfrauen. Von denen mindestens vier, wenn nicht fünf, am Tag ihres Todes keine mehr waren.«
»Oh?«
»Sibill wurde angeblich von Fahrenden geschändet und dann umgebracht. Am Kattenbug. Sanna wurde vom Stadtmedikus untersucht, Pia von der Hebamme, bei der Stiftsjungfer fiel es der Leichenwäscherin auf - das hat unsere Corinne von der Köchin im Ursulastift erfahren. Bei Gisela Schiderich liegt der Verdacht nahe, denn sie wurde mit gelöster Kleidung gefunden.«
»Daher Euer Argument des Vorsatzes?«
»Ja. Denn wenn auch Bertram in einem Anfall jemanden umbringen könnte, vorher entjungfern würde er ein Mädchen sicher nicht.«
»So denn der Mörder auch der Jungfernschänder ist.«
»Ja, Pater Ivo. Doch ich gebe zu bedenken, dass besagte Maiden ihrer Umgebung zuvor alle Anzeichen des Betörtseins zeigten.«
»Das spricht zu Gunsten Eurer These, Frau Almut. Was wisst Ihr von den anderen Opfern?«
»In dieser Hinsicht wenig. Christine, die Buchmalerin, hat sich vor ihrem Tod ähnlich auffallend verhalten, beobachtete Fabio. Und die Marie Seidweberin war wohl auch verliebt, angeblich in einen geheimnisvollen Unbekannten. Pitter könnte etwas Ähnliches bei der Gänse-Ursel beobachtet haben. Die Sibill allerdings war ein leichtsinniges Geschöpf, und auch der Maike sagt man einen derartigen Charakter nach.«
»Krudener, die Begine geht von einem einzigen Mörder aus, aber es gibt auch eine andere Erklärung, nicht wahr?«
Pater Ivo hatte die Arme auf den Tisch gestützt und sah den Apotheker eindringlich an.
»O ja, Ivo. Die gibt es natürlich. Wir beide haben es ja einst erlebt.«
»Haltet mich nicht im Dunkeln, Meister Krudener!«
»Natürlich nicht. Nur ist es eine schlimme Geschichte, die wir vor langer Zeit erlebt haben. Als ich noch der Gehilfe meines Herrn war, wurden uns nacheinander einige geschändete und schwer verletzte Mädchen und Frauen gebracht. Es zeigte sich, dass es in der Stadt eine Bande junger Männer gab, die sich zu einem Bund übelster Art zusammengetan hatten. Zu den Initiationsriten dieses Bundes gehörte es, eine Jungfrau zu schänden.«
»Heilige Maria, du Schmerzensreiche!«
»So etwas könnte auch hier vorliegen.«
Almut war erschüttert, aber dann schüttelte sie energisch den Kopf.
»Nein, es ist einer!«
»Was macht Euch da so sicher, Begine?«
»Ihr habt von Wissen und Erkennen gesprochen, Meister Krudener. Aber ich glaube, es gibt Menschen, die erkennen manches, ohne zu wissen.«
»Ganz richtig, Frau Almut, und man nennt sie Propheten, Seher oder Träumer.«
»Unsere Rigmundis ist eine Seherin.«
Krudener schüttelte verblüfft den Kopf. »Ihr überrascht mich immer wieder aufs Neue. Was sah sie?«
»Als wir Euer Hungertuch flickten, Pater Ivo, überkam sie eine Vision. Sie sprach von elf Jungfrauen, die dem Bräutigam, an dessen Seele eine Dämonin nage, zum Opfer fielen.«
»Herr im Himmel!«, entfuhr es Krudener.
»Habt Ihr sie gefragt, was es bedeuten soll?«, wollte Pater Ivo wissen, der sich weniger darüber erregte.
»Es hat wenig Sinn, sie zu fragen. Meistens weiß sie nicht einmal, was sie gesagt hat. Wir hüten uns sehr wohl, es vor ihren Ohren zu wiederholen oder gar auszulegen.«
»Aber Gedanken habt Ihr Euch dennoch gemacht.«
»Natürlich. Denn darüber erst konnte ich den Zusammenhang zwischen den angeblichen Unfällen der Jungfern herstellen.«
»Hat sie schon vorher …«
»Sie hat schon oft, doch meist ist es harmlos, was dann eintritt. Aber einige wenige Male... Ja, Pater, den Tod von Jean de Champolle hat sie vorhergesehen und auch den von Bettina de Benasis. In sehr, sehr kryptischen Bildern.«
Krudener nickte zustimmend.
»So können wir getrost unsere Überlegung mit den Teufelsbündnern fallen lassen und uns auf den Bräutigam konzentrieren, an dessen Seele ein Dämon nagt.«
»Eine Dämonin, um korrekt zu sein.«
»Wie würdet Ihr das auslegen, Begine? Ihr habt Erfahrung mit dem, was Eure Seherin berichtet.«
»Sie nahm das
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