Die elfte Jungfrau
schweigend, und Almut betrachtete dabei die Stickereien auf dem Tuch. Es waren die zehn Jungfrauen abgebildet, die mit ihren Lampen auf die Ankunft des Bräutigams warteten. Hier und da hatten sich die Goldfädchen gelöst, mit denen die Flämmchen der fünf brennenden Leuchten in ihren Händen gestickt waren, und am Saum hatten die kleinen Nager ganze Arbeit geleistet. Er hing ausgefranst herab und musste mit feinsten Stichen befestigt werden. Ursula schien Freude an dieser Tätigkeit zu haben und begann, mit ihrer schönen, klaren Stimme ein Lied zu summen. Es herrschte eine beschauliche Atmosphäre im Refektorium, das helle Sonnenlicht fiel auf das weiße Tuch, das Kaminfeuer knisterte leise, der Duft von Backäpfeln zog von der Küche herüber, und lautlos huschten die Nadeln durch den Stoff.
»Sie sind töricht, die Jungfrauen, denn sie haben der Versuchung nachgegeben. Töricht, alle sieben, und noch weitere vier werden dieser Torheit zum Opfer fallen«, murmelte Rigmundis, während sie mit flinken Fingern das Gewand einer der törichten Jungfrauen nachstickte. Ursula hörte mit dem Singen auf und sah verblüfft hoch. Doch Almut legte nur warnend den Finger an die Lippen.
»Ihre Lampen sind erloschen wie ihre Leben, denn sie haben sich der fleischlichen Begierde hingegeben, und der Bräutigam, an dessen Seele die Dämonin nagt, sucht nach weiteren Opfern. Wehe der elften Jungfrau, deren tonlose Hilferufe ungehört verhallen! Haltet Wacht, haltet Wacht, denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde.«
Ursulas Augen waren beinahe kreisrund geworden, und die Nadel zitterte in ihren Fingern. Almut legte ihr vorsichtig die Hand auf den Arm und wollte sie beruhigen, doch Rigmundis war noch nicht zu Ende mit ihrer Vision.
»Und der Alte wird kommen und Gerechtigkeit üben und dem Sohn das Reich zurückgeben, und Erlösung werden jene finden, die sich selbst vergeben. Dann werden die Glocken verkünden die Auferstehung des Herrn.«
»Amen!«, flüsterte Ursula.
»So sei es!«, murmelte auch Almut, und plötzlich sah Rigmundis mit klaren Augen auf.
»Habe ich etwas gesagt?«
»Ach, du hast nur etwas über die törichten Jungfrauen erzählt. Ich meine, das liegt ja nahe, bei dieser Arbeit hier!«
»Aber sie hat von sieben gesprochen!«, warf Ursula ein. »Und in der Bibel werden nur fünf als töricht bezeichnet.«
»Ursula, Rigmundis hat manchmal wundersame Gesichte. Doch das braucht dich nicht zu erschrecken. Wir wissen das hier alle und reden nicht viel darüber. So solltest du es auch halten.«
Almut sprach im Brustton der Überzeugung, aber insgeheim musste sie einen Schauder unterdrücken. Der Hinweis auf den tonlosen Schrei hatte sie entsetzt, und sie selbst wusste nur zu gut, dass Rigmundis’ Visionen einen wahren Kern enthielten, auch wenn sie sich manchmal auf eher belanglose Kleinigkeiten oder geradezu lächerliche Vorfälle bezogen wie etwa die Ermordung eines Huhns durch die Konventkatze. Gelegentlich aber, und das war der Grund ihres Schauderns, hatte sie selbst erfahren müssen, dass sie sich auf wahrhaft erschreckende Ereignisse bezogen. Doch Ursula, die erst seit wenigen Monaten im Konvent weilte, wollte sie nicht verschrecken.
Es schien ihr gelungen zu sein, die Weverin zu beruhigen, denn sie stickte unermüdlich weiter und nahm auch ihren wohltönenden Gesang wieder auf. Doch plötzlich unterbrach sie ihn und starrte Rigmundis an, die mit großer Konzentration einen neuen Faden einfädelte.
»Wieso elf Jungfrauen? Es sind doch nur zehn, oder?«
»Was? Wieso?«
Rigmundis ließ den Faden sinken.
»Du hast von elf Jungfrauen gesprochen.«
»Habe ich das? Nun ja, ich weiß nicht recht, was ich gesehen habe.«
Almut fiel eine rettende Ausrede ein.
»Ursula, manchmal bringt Rigmundis die Bilder etwas durcheinander. Ich denke, gerade weil du mit uns am Tisch sitzt, wird sie die elf Jungfrauen der heiligen Ursula mit den zehn Jungfrauen der Geschichte aus dem Matthäusevangelium vermischt haben. Das hat nichts zu bedeuten.«
»Hm.«
So ganz war die Weverin zwar nicht überzeugt, aber sie war eine gutmütige Frau und mehr als bereit, auch die sonderbaren Eigenschaften einiger der Beginen hinzunehmen.
Almut hingegen stopfte mit leicht verbissener Miene ein ausgefranstes Loch und rekapitulierte die wunderlichen Worte der Vision, um später darüber nachzudenken.
Kaum hatte sie sich den Wortlaut eingeprägt, flog die Tür des Refektoriums auf, und Bela, rot vor Aufregung, stürzte in den
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