Die elfte Jungfrau
aus, wenn sie erwacht und sich streckt.«
»Ich habe noch mehr davon. Es ist eine gute Übung für mich. Als wir noch bei meinem Oheim Claas wohnten, habe ich damit begonnen, Tiere zu schnitzen. Da war ein Hundewelpe, der so putzig war, und ein vornehmer Storch auf dem Dach, und zwei Eichhörnchen, die in den Ästen der Bäume spielten. Der Oheim meinte, sie seien recht gut geworden. Danach erst habe ich begonnen, Menschen abzubilden. Jetzt habe ich beinahe ein Jahr lang kein Schnitzmesser in der Hand gehabt, und ich dachte, es kann nicht schaden, wieder von vorne anzufangen. Seht!«
Bertram wickelte aus einem Lappen drei weitere Figürchen. Eine schlummernde Katze rollte sich in seiner Hand zu einem Kringel, eine andere lag auf dem Rücken und haschte mit der Pfote nach irgendetwas über ihr, und eine weitere putzte sich hingebungsvoll den Vorderballen und schielte dabei so mutwillig nach oben, dass Almut lachen musste.
»Teufelchen, die eine kleine Teufelei ausheckt.«
»Sie ist ein possierliches Ding, Eure Katze. Wie alle Katzen. Der Herrgott muss sie geschaffen haben, um den Menschen die wahre Anmut vor Augen zu führen. Sie sind vollkommene Geschöpfe, Frau Almut. Ihre Haltung, ihre Bewegungen und ihr Blick drücken so viel Würde und Sanftheit, aber auch eine verborgene Kraft und sehr viel Schalk aus.«
»Gelegentlich auch Grausamkeit, denn sie sind Jägerinnen, Bertram.«
»Sie töten, um zu leben, nicht aus Bosheit.«
»Du machst dir viele Gedanken, will mir scheinen.«
»Ich versuche das Wesen dessen zu erkennen, was ich schnitze. Es einzufangen und festzuhalten. So war das schon immer.«
»Dann würde es mich wahrhaftig stark interessieren, wie du die Gottesmutter darzustellen gedenkst, Bertram.«
Der junge Künstler nickte und griff in den Beutel zu seinen Füßen.
»Es ist eine Herausforderung, da habt Ihr Recht, Frau Almut. Ich habe einen ersten Versuch gewagt. Sagt mir, was Ihr davon haltet.«
Er entfernte das weiche Tuch um die Figur, die knapp anderthalb Handspannen hoch war, und stellte sie auf die Bank. Das helle Holz leuchtete im Mittagslicht. Auch wenn es noch rau war, unpoliert und an manchen Stellen noch ein wenig uneben, so wirkte der reiche Faltenwurf eines weiten Gewandes wie vom Wind bewegt. Ein Schleier lag leicht über ihren Haaren und floss über ihre Schultern. Gehalten wurde er von einer Krone, die wie ein zierliches Spitzenwerk wirkte. In ihren Armen hielt sie das Kind, das sich an ihre Schulter schmiegte, und ihr Haupt war ein wenig, wie anbetend, seitlich nach oben gerichtet. Doch ein Gesicht hatte sie noch nicht.
»Meisterlich, Bertram. Anmutig und gütig, lebendig, wie in Bewegung. Ich vermute, du wartest noch darauf, ihr Antlitz zu geben.«
»Ja, ich warte noch. Sie hat so viele Gesichter, und ich kann ihr nur eines geben.«
Almut dachte an ihre kleine Statuette und nickte. Auch in ihr sah sie die vielen Gesichter der barmherzigen Mutter. Wer immer die Bronzefigur gestaltet hatte, war ein Meister seiner Kunst gewesen, denn er hatte die vielen Facetten darin eingefangen. Spontan schlug sie vor: »Ich werde dir meine Marienstatue einmal zeigen. Vielleicht findest du eine Anregung darin. Sie ist sehr, sehr alt.«
»Die würde ich gerne sehen.«
»Dann erinnere mich bei der nächsten Unterrichtsstunde daran, Bertram. Aber nun muss ich gehen, ich habe noch Besorgungen zu machen.«
»Seht Euch vor auf den Gassen. Mit den Narren ist nicht zu spaßen!«
»Welch weise Einsicht, Bertram.«
Er lächelte sie an und wickelte die Madonnengestalt wieder ein. Almut strich noch einmal mit dem Finger über die Holzkätzchen und meinte dann: »Ich habe etwas Geld, Bertram. Kann ich dir eines davon abkaufen?«
»Sie sind unverkäuflich, Frau Almut.«
»Schade, aber natürlich sind es deine Werke.«
»Ich verkaufe sie nicht, nein. Aber ich würde Euch gerne eines davon schenken. Dieses hier, das so schalkhaft nach oben blinzelt, hat es Euch doch besonders angetan.«
Er legte ihr die Pfoten leckende Katze in die Hände.
»Bertram, ach, danke!«
Gerührt drückte Almut die kleine Gestalt an ihre Brust.
Bela hatte eine neue Partie Dame angefangen, stand aber gutmütig auf, als Almut sie bat, mit ihr nun zum Neuen Markt aufzubrechen. In den belebten Straßen hatten sie Mühe voranzukommen, doch immerhin schien ihre graue Tracht die allzu Ausgelassenen so weit zu beeindrucken, dass sie nicht über Gebühr belästigt wurden. Almut hatte eine strenge Miene aufgesetzt, und Bela
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