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Die elfte Jungfrau

Titel: Die elfte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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unsere Schülerinnen und eigentlich alle Jungfrauen in der Stadt. Denn Jungfrauen waren sie alle, das ist das Einzige, was ich als Gemeinsamkeit finden kann.«
    Almut seufzte leise und wandte sich vom Fenster ab zu der Marienstatue, die auf dem Tisch stand und zu deren Füßen sie ein kleines Gebinde Schneeglöckchen gelegt hatte. Diese hatte sie Elsa abgeschwatzt, die nur für deren Zwiebeln Verwendung fand. Das feine goldene Gesicht zeigte seinen üblichen sanften Ausdruck, und Almut fand Ermunterung darin, ihre Gedanken weiter auszuspinnen.
    »Pitter ist ein kluger Junge, und seine Vermutungen sind nicht von der Hand zu weisen. Dennoch will mir die Idee nicht gefallen, es könne eine Frau die Mörderin sein. Hingegen könnte es sehr wohl sein, dass der Mörder von Sinnen sein muss. Zumindest gelegentlich. Möglicherweise ist er ein netter Mensch, freundlich und gutmütig, ganz bestimmt von einnehmendem Wesen, denn die Mädchen scheinen ihm ja zu vertrauen. Nur manchmal könnte sich sein Geist verwirren, und er wird zum brutalen Mörder. Vielleicht weiß er anschließend gar nicht, was er getan hat. Wie sagte Rigmundis? Ein Dämon, der an seiner Seele nagt.«
    Almut setzte sich auf ihren Schemel und stützte das Kinn auf die gefalteten Hände.
    Plötzlich fuhr sie auf.
    »Mist, Maria! Gerade habe ich Bertram beschrieben. Verd... Entschuldige, barmherzige Jungfrau, aber wirklich...! Sie nennen ihn einen Narren, und in gewisser Weise ist er es auch, denn er verliert bei seinen Anfällen eine Zeit lang den Verstand. Ungeheuerliche Kräfte entwickelt er auch. Könnte es sein, Maria? Könnte er all diese Jungfern gekannt haben? Oder - nein, er musste sie noch nicht einmal kennen. Wenn er einen Anfall hat, schlägt er wild um sich und klammert sich an jeden Beliebigen in seiner Nähe. Er selbst fürchtet ja, er könne der Zöllnerstochter Maike etwas zu Leide getan haben. Wie grauenvoll, sich das vorzustellen! Und ich will Trine bitten, wieder zu uns zu ziehen. Vielleicht setze ich sie damit sogar noch größerer Gefahr aus. Oh, Mutter des guten Rates, hilf mir, das Rätsel zu lösen und die rechte Entscheidung zu treffen.«
    Maria wirkte im flackernden Licht des Öllämpchens nachdenklich. Der kleine Junge auf ihrem Knie schmiegte sich hingegen vertrauensvoll an ihre Brust.
    »Aber warum nur Jungfrauen?«, fuhr Almut in ihren Fragen fort. »Weil sie sich nicht so wehren können wie junge Männer? Weil sie schwächer sind? Das passt sicher auf Gisela und Sanna, auf das Stiftsjüngferchen und möglicherweise auch auf die Zöllnerstochter. Aber die Sibill war ein kräftiges Geschöpf, wie sie so die schweren Milchkannen trug. Die anderen kenne ich nicht, aber Mägde und Handwerkerinnen wissen sich gewöhnlich zu wehren. Und die Christine wurde ja angeblich unter ein Fuhrwerk gestoßen. Ich unterstelle so einfach, es müsse immer derselbe Mörder sein, aber das muss nicht stimmen. Es könnte in dem einen oder anderen Fall auch einen zweiten geben. Es ist alles schrecklich kompliziert, Maria. Hätte ich nur einen Menschen, der mir hülfe, meine wirren Ideen zu sortieren.«
    Almut stand wieder auf und ging zum Fenster.
    »Er könnte es. Ich würde gerne mit ihm darüber sprechen.«
    Ein Hauch kühler Nachtluft wehte sie an.
    »Ohne Hintergedanken, Maria. Denn ich sehe ihn in seiner nüchternen schwarzen Kutte vor mir, so, wie er mir bislang immer begegnet ist. Ein scharfsinniger Zuhörer, der mühelos meinen Gedankengängen folgt und ihnen eine neue Richtung geben kann. Ich bewundere ihn dafür und empfinde Hochachtung für seinen Verstand. Es hat mich wirklich verwirrt, ihn in anderer Gewandung zu sehen. Im prachtvollen Ornat, Maria, erkannte ich den mächtigen Mann in ihm, und vor dem habe ich ein wenig Angst. Als er jedoch vor Monaten, verletzt und fiebernd, vor mir lag, war es Fürsorge, die mein Herz für ihn erfüllte. Ich habe ihn als Freund und Beschützer, als Berater und Tröster betrachtet. Aber verschlossen habe ich meine Augen mit Absicht davor, dass er auch ein Mann ist. Sehend zu werden, Maria, bedeutet wahrhaftig, seine Unschuld zu verlieren.«
    Als sie sich zu der Statue umdrehte, flog ein Fünkchen aus der Lampe und ließ Mariens Augen anerkennend aufblitzen.
    »Beiseite mit diesen Abschweifungen! Ich will versuchen, einen Schritt nach dem nächsten zu gehen. Wie könnte ich feststellen, ob Bertram der Übeltäter ist? Ah ja, die arme Sanna ist am Freitag umgekommen. Ob es wirklich in der Krebsgasse

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