Die elfte Jungfrau
bei der Erinnerung daran. Sie hatte nicht auf das Opfer schauen mögen, und so sei ihr ein Mann aufgefallen, der sich eilig aus diesem Pulk entfernte. Sicher könne sie sich natürlich nicht sein, ob er die Frau gestoßen hätte, aber sie sei so unerwartet aus der Gruppe gefallen, vor allem rückwärts, dass ein Stolpern fast nicht möglich schien. Es hätte natürlich auch ein Versehen sein können. Trotzdem hatte sie die Umstehenden darauf aufmerksam gemacht, aber in den nachfolgenden Aufregungen hatte sie niemand beachtet, sondern es wurde ein Unfall angenommen. Wie der Mann, der sich fortgestohlen hatte, ausgesehen hatte, daran konnte sie sich nicht recht erinnern. Groß sei er gewesen, nicht dick, und er habe so eine Art dunkler Gugel getragen, deren langes Ende um Kopf und Kinn gewickelt war, wie es die Mauren zu tun pflegten.
Ermentrude wurde wieder entlassen, und die Äbtissin fragte, als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte: »Werdet Ihr mir verraten, Frau Almut, warum Ihr an dem Schicksal dieser jungen Frau solchen Abteil nehmt?«
»Das will ich gerne tun, ehrwürdige Mutter. Seht, es hat ein paar traurige Fälle in der jüngsten Vergangenheit gegeben, die in mir einen entsetzlichen Verdacht weckten.«
Sie erzählte von den bisher acht Jungfrauen, die den Tod gefunden hätten, und die Äbtissin erbleichte.
»Ihr vermutet einen Mörder?«
»Ja.«
»Warum erhebt Ihr nicht Anklage?«
»Gegen wen? Keines der Mädchen stand mir oder unserem Konvent nahe. Und bisher sieht es so aus, als seien es Unfälle - schreckliche zwar - die die unbesonnenen Mädchen erlitten haben. Immerhin, der Parler ist zum Turmmeister gegangen, und es wird einige Befragungen geben. Aber wer wird die Zusammenhänge zu den anderen Jungfern sehen? Als die ersten Fälle geschahen, befanden sich die Schöffen und der Vogt beim Erzbischof in Bonn.«
»Was versprecht Ihr Euch davon, diese Nachforschungen anzustellen?«
»Ich will die jungen Mädchen, die uns anvertraut sind, schützen. Das solltet Ihr auch tun, ehrwürdige Mutter.«
»Unsere Schwestern sind geschützt, Frau Almut!«
Es klang ein wenig beleidigt, und Almut schüttelte den Kopf.
»Auch die Stiftsjungfer von Sankt Ursula lebte in der Immunität. Und zumindest eine Novizin von Euch ist schon einmal in der Dämmerung alleine in den Straßen gesehen worden!«
»Wer sagt Euch das?«
»Eine Freundin, die sie getroffen hat und die sie um einen Liebestrank gebeten hat.«
»Unmöglich. Das erfindet Eure Freundin!«
»Schwerlich. Sie hat sie mit einer Butterkaramelle vertröstet, von der dann ein anderer Schützling von Euch Zahnschmerzen bekommen hat.«
Mutter Mabilia antwortete darauf zunächst nicht, und Almut bemerkte, wie es in ihr arbeitete. Von sehr schnellem Verstand schien die Äbtissin wirklich nicht zu sein, und ihr Glaube an den Gehorsam der ihr Anvertrauten war sichtlich etwas einfältig.
»Ja, es gab da einen unbedeutenden Vorfall. Die Mädchen bekommen oft Leckerbissen von ihren Angehörigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine von ihnen sich nachts aus dem Kloster stiehlt. Wie sollte das auch angehen? Die Pforte ist verschlossen und bewacht, die Mauer hoch genug, um nicht darüberklettern zu können. Und im Dormitorium hält immer eine der älteren Schwestern die Aufsicht.«
»Junge Mädchen, die ein Abenteuer suchen, überwinden solche Hindernisse mit unglaublichem Geschick.«
»Ihr habt da wohl eigene Erfahrungen, Frau Almut«, kam es spitz als Antwort zurück. Almut dachte an einen höchst praktisch gelegenen Buchenast vor dem Kammerfenster in ihrem Elternhaus und lächelte flüchtig.
»Ich habe genug mit vorwitzigen Jungfern zu tun, ehrwürdige Mutter, um durch kaum etwas überrascht zu sein.«
»Töchter von Dirnen, Krämerinnen und Ballenpackerinnen. Ja, die mögen solche Streiche ausführen. Aber unsere Novizinnen sind aus gutem Haus. Ich verbürge mich für jede Einzelne von ihnen. Ich will ja nicht behaupten, es sei kein christlicher Dienst, diesen Gassenkindern ein wenig Erziehung zu geben, aber schützen könnt Ihr die nicht.«
Almut hätte gerne eine Lanze für die Schülerinnen der Beginen gebrochen, aber ein stiller Hilferuf an Maria gab ihr die Kraft, dem zu widerstehen. Sie bedankte sich stattdessen für die Hilfsbereitschaft der Nonnen und empfahl sich.
26. Kapitel
M aria, Mutter und Jungfrau, die leuchtet wie der Morgenstern, dem führerlosen armen Heer, das auf dem öden fremden Meer des bodenlosen Lebens irrend
Weitere Kostenlose Bücher