Die elfte Jungfrau
seine Hand über die Rinde gleiten, wie zu einem freundlichen Dank, dann wandte er sich ab und ging auf seine Unterkunft zu.
Die alte Eiche war schon in seiner Kindheit seine Vertraute gewesen, und hoch oben in ihrem Geäst hatte er ihr oft genug seine Gedanken anvertraut. Auf ihren Trost und Ratspruch verließ er sich auch jetzt wieder.
28. Kapitel
S ie ist weg, Almut. Ausgerissen. Obwohl ich die Tür immer geschlossen gehalten habe. Sie hat sich durch einen Spalt am Boden gezwängt, hier siehst du noch die schwarzen Haare.«
Gertrud war ungehalten, aber Almut zuckte nur mit den Schultern.
»Wo eine Katze rauswill, kommt sie auch raus. Und eine rollige erst recht.« Und mit einem verdrießlichen Schnauben zitierte sie: »›Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh‹, und den Novizinnen wie den Katzen.«
»Du hast dich geärgert!«
»Über die Äbtissin von Machabäern. Sie glaubt, ihre Novizinnen seien tugendsame Engel!«
Die Köchin knurrte verächtlich: »Reine Bequemlichkeit. Aber wir haben in zwei Monaten die Bescherung.«
»Das ist doch ein minderes Problem, Gertrud. Wir werden die Kätzchen verschenken. Bertram will bestimmt eines, und in Lenas Vorratskammer mit all den Mehlsäcken gibt es vermutlich sogar Mäuse genug für zwei. Franziska kann man bestimmt auch eine andienen. Das ist eine passendere Gabe als das Zehenknöchelchen des heiligen Simon.«
»Hm?«
»Den ruft man gegen zänkische Frauen an. Esteban hat mir eines geschenkt.«
»Wusste wohl, warum!«
» Ich bin doch nicht zänkisch!«
»Nein, nur deine Zunge. Da, nimm ein paar getrocknete Apfelringe. Süße Wecken gibt’s erst an Ostern wieder.«
Zufrieden kaute Almut an dem Apfel. Die Fastenzeit machte ihr nicht allzu viel aus, Gertrud fand immer wieder Möglichkeiten, nahrhafte Gerichte aus den erlaubten Lebensmitteln herzustellen. Fischsuppen in Mandelmilch, würzigen Gemüsebrei, gefüllte Fladenbrote, gesalzene Heringe, fette Aale, Lachs und - mit einem Augenzwinkern hin und wieder auch eine Ente, die sie als Wassertier bezeichnete - kamen auf den Tisch.
»Also mach dir nicht so viel Gedanken um Teufelchen, sie kommt sicher bald zurück«, tröstete sie die Köchin und nahm sich noch einen der zähen, aber süßen Ringe und verließ die Küche. Es wartete im Hof bereits die Hausbestellerin des Herrn vom Spiegel, die sie zu seinem Stadthaus begleiten sollte. Die füllige Matrone grüßte sie sehr ehrerbietig, stellte sich als Nelda vor und ließ Almut an der Pforte den Vortritt.
»Wo wohnt Euer Herr, Frau Nelda?«
»Am Alten Markt hat die Familie ihren Stammsitz. Aber der Herr ist erst vergangene Woche dort eingezogen, zuvor hat er bei den Overstolzens am Filzgraben gewohnt. Er kam ja recht überraschend zurück, und wir mussten sein Haus erst wieder für ihn richten.«
»Hat es denn leer gestanden?«
»Eine Weile, dann ist seine verwitwete Tochter dort eingezogen und eine ihrer unverheirateten Basen. Sie haben sehr bescheiden und zurückgezogen gelebt. Der Herr Gauwin setzt andere Maßstäbe, wisst Ihr.«
Almut hätte gerne noch mehr Fragen zu der Familie gestellt, wollte aber nicht aufdringlich erscheinen, und so ging sie schweigend neben der Hausbestellerin her. Als sie das mächtige Steinhaus mit seinen Stufengiebeln und blitzenden Butzenglasfenstern neben dem zinnenbewehrten Wohnturm erreicht hatten, hinter dem die trutzige Klosterkirche von Groß Sankt Martin aufragte, packte sie jedoch ein jähes Gefühl von Kümmernis. Pater Ivo hatte, seit er im Kloster weilte, tagtäglich sein altes Heim vor Augen gehabt. Sie fragte sich bedrückt, wie er das ausgehalten hatte.
»Hier sind wir nun. Tretet ein, Frau Almut, mein Herr erwartet Euch.«
Über ein schönes Marmormosaik wurde sie zu der geschwungenen Treppe geleitet, die in das erste Geschoss führte. Eine reich geschnitzte Tür schwang lautlos auf und gab den Blick in einen eindrucksvoll ausgestatteten Wohnraum frei. Kostbare Hölzer verkleideten die Wände, Gobelins und Teppiche schufen eine warme Atmosphäre. Gold- und Silbergerät blinkte auf den Borden, ein hoher Schrank mit aufwändiger Maßwerkschnitzerei nahm beinahe die halbe Wand ein, und schwellende Samt- und Lederpolster luden auf Bänken und Sesseln zum Sitzen ein. Im Kachelofen brannte ein wärmendes Feuer, duftende Wachskerzen standen in hohen Kandelabern, und das Licht, das durch die Fenster fiel, malte farbige Muster auf den glänzend polierten Dielen. Alles atmete Reichtum und Macht aus.
Aus einem
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