Die Elite
die einem passieren kann«, antwortete sie. »Man weiß, dass man etwas Wundervolles gefunden hat und möchte es für immer festhalten. Doch sobald man es hat, fürchtet man in jeder einzelnen Sekunde den Moment, in dem man es wieder verlieren könnte.«
Ich seufzte leise. Sie hatte ja so recht. Liebe war eine schöne Form von Angst.
Um nicht zu viel darüber nachzudenken, was ich vielleicht verlieren konnte, betrat ich mein Zimmer.
»Lucy! Lassen Sie sich anschauen!«
»Gefällt es Ihnen?« Sie griff nach hinten in die filigranen Zöpfe.
»Es sieht einfach wundervoll aus. May hat meine Haare früher auch ständig geflochten. Sie kann das wirklich sehr gut.«
May zuckte mit den Schultern. »Was blieb mir denn auch anderes übrig? Wir konnten uns keine Puppen leisten, also musste Mer herhalten.«
»Nun«, sagte Lucy und wandte ihr das Gesicht zu, »während Sie hier bei uns sind, werden Sie unsere kleine Puppe sein. Anne, Mary und ich werden Sie so hübsch wie die Königin aussehen lassen.«
May neigte zweifelnd den Kopf. »Niemand ist so hübsch wie sie.« Dann drehte sie sich schnell zu mir um. »Aber erzähl Mom nicht, dass ich das gesagt habe.«
»Keine Angst, werde ich nicht«, sagte ich schmunzelnd. »Aber jetzt müssen wir uns fertig machen. Es ist Zeit für den Tee.«
Aufgeregt klatschte May in die Hände und setzte sich vor den Spiegel. Lucy machte sich rasch einen Knoten, ohne die Zöpfe zu lösen, und setzte sich wieder die Haube auf, so dass fast alle Haare verdeckt waren. Ich verstand nur zu gut, warum sie sich wünschte, dass ihre Frisur noch ein bisschen länger so bleiben würde.
»Ach ja, für Sie ist ein Brief gekommen, Miss«, sagte Lucy und händigte mir einen Umschlag aus.
»Danke sehr«, antwortete ich und war ganz plötzlich beunruhigt. Die meisten Menschen, die mir hätten schreiben können, waren im Moment hier im Palast. Ungeduldig riss ich den Umschlag auf und las die kurze Nachricht. Die krakelige Schrift war mir sehr vertraut.
America,
leider habe ich viel zu spät erfahren, dass die Familien der Elite vor kurzem in den Palast eingeladen wurden und dass Vater, Mutter und May abgereist sind, um Dich zu besuchen. Mir ist klar, dass Kennas Schwangerschaft so weit fortgeschritten ist, dass sie nicht mehr reisen kann. Und Gerad ist noch viel zu klein. Aber ich versuche zu verstehen, warum sich diese Einladung nicht auch auf mich bezieht. Ich bin schließlich Dein Bruder.
Meine einzige Erklärung hierfür ist, dass Vater entschieden hat, mich auszuschließen. Jedenfalls hoffe ich sehr, dass das nicht Deine Idee war. Uns steht Großes bevor, America, Dir und mir. Und wir könnten uns in unserer jeweiligen Lage gegenseitig sehr unterstützen. Wenn unserer Familie also noch weitere besondere Privilegien eingeräumt werden, solltest Du an mich denken.
Hast Du mich zufällig schon dem Prinzen gegenüber erwähnt? Ich frage nur aus Neugier …
Schreib mir bald!
Kota
Im ersten Moment überlegte ich, den Brief zusammenzuknüllen und in den Papierkorb zu werfen. Ich hatte gehofft, Kotas maßloser Ehrgeiz wäre gestillt und er hätte gelernt, mit dem Erfolg, den er hatte, zufrieden zu sein. Das war offenbar nicht der Fall. Doch dann legte ich den Brief ganz hinten in eine Schublade und beschloss, das Ganze einfach zu vergessen. Kotas Eifersucht würde mir diesen Besuch nicht verderben.
Lucy läutete nach Anne und Mary, und während wir uns für die Tee-Einladung zurechtmachten, hatten wir jede Menge Spaß. Mays überschäumendes Temperament hielt uns alle bei Laune, und ich bemerkte, wie ich beim Umkleiden sogar leise vor mich hin summte. Kurz darauf erschien Mom und bat uns alle, noch mal genau zu prüfen, ob ihr Aussehen so akzeptabel war.
Natürlich war es das. Sie war kleiner und fülliger als die Königin, aber in ihrem Kleid sah sie mindestens genauso königlich aus. Als wir die Treppe hinuntergingen, ergriff May plötzlich meinen Arm. Sie sah traurig aus.
»Was ist los? Du freust dich doch darauf, die Königin kennenzulernen, oder?«
»Aber ja. Es ist nur …«
»Was denn?«
Sie seufzte. »Wie soll ich denn nach all dem hier jemals wieder ganz normale Khakihosen tragen?«
Die Mädchen waren aufgeregt, und alle sprühten vor freudiger Erwartung. Natalies Schwester Lacey war ungefähr in Mays Alter. Die beiden saßen zusammen in einer Ecke und plauderten angeregt miteinander. Lacey sah ihrer Schwester unglaublich ähnlich. Sie waren beide schlank, blond und
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