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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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erfüllt...
    "Hey, Katje ..." Er macht einen langen Arm, hakt einen Finger in eine Speiche, um das Rad anzuhalten. Die Kugel klickt in ein Fach, dessen Zahl sie nicht sehen können. Die Zahl zu erkennen soll der springende Punkt sein. Doch in dem Spiel hinter dem Spiel ist es nicht der springende Punkt.
    Sie schüttelt den Kopf. Er begreift, daß es etwas aus ihrer Zeit in Holland sein muß, vor Arnheim - ein nicht schaltbarer Widerstand in dem Schwingkreis, den sie bilden. In wie viele palmolive- und camayduftende Ohren hat er schon Songs geschmachtet, Nach-dem-Bowling-Songs, Hinter-dem-Moxie-Plakat-Songs, Wochenend-und-noch-ein-Glas-Songs, die alle nur bedeutet haben, daß es nichts ausmacht, Honey, was mal war, daß wir die Vergangenheit vergessen wollen, nur das, was jetzt ist, zählt...
    Perfekt für jenseits des Atlantik. Aber nichts für hier, als er auf ihre nackte Schulter klopft, in ihre europäische Dunkelheit hineinstarrt, verwirrt, er hier mit seinem glatten, fast unkämmbaren Haar, seinem rasierten, faltenlosen Gesicht, ein keuscher Eindringling in diesen Himmler-Spielsaal voller deutsch-barocker FormVerworrenheiten (ein Sakrament von Händen, mit jeder letzten Handbewegung zu erfüllen - um dessentwillen, was sie werden mußten, um so von allem auszusagen: von der Kälte, den Wunden, dem vergänglichen Fleisch, das alles dies berührte...). Seine geheimen Regungen werden ihm in diesem Saal mit den gewundenen Vergoldungen bewußt, einige von ihnen. Die Zahlen und Kombinationen, auf die SIE hier setzten, gehörten der Vergangenheit an, und nur ihr. IHRE Chancen waren nie Wahrscheinlichkeiten, sondern bereits registrierte Serien. Die Vergangenheit ist es, die hier Forderungen stellt. Sie tuschelt und greift nach dem Einsatz und legt ihre Opfer mit einem höhnischen Grinsen aufs Kreuz.
    Wenn SIE IHRE Kombinationen wählten, Rot, Schwarz, Ungerade, Gerade, was meinten SIE damit? Welches Rad setzten SIE in Bewegung? In einem Hinterzimmer in Slothrops Vergangenheit, einem Raum, der ihm jetzt verboten ist, existiert etwas Schlimmes. Ihm wurde etwas angetan, und Katje könnte wissen, was es war. Hat er nicht, in ihrem "zukunftslosen Blick", eine Brücke in seine eigene Vergangenheit gefunden, etwas, das sie als Liebende um so enger verbindet? Er sieht sie am Endpunkt einer Phase ihres Lebens, ohne einen nächsten Schritt, der ihr noch offenstünde: Sie hat alle ihre Einsätze plaziert, nun bleibt ihr nur die Langeweile, sich von einem Saal in den nächsten schieben zu lassen, durch eine Folge numerierter Räume, deren Ziffern nicht zählen, bis das Trägheitsmoment sie endlich auch in den letzten treibt. Sonst nichts.
    Slothrop, der Naive, hat sich nie vorgestellt, daß ein Leben so enden könnte. Nichts annähernd so Trostloses. Inzwischen aber ist ihm der Gedanke weniger fremd geworden. Narzißtisch erschreckt/erregt, hat er sich angefreundet mit der fatalen Möglichkeit, daß genau diese Art von Kontrolle bereits auch über ihn geübt wird. Die Verbotenen Säle. Ja, es ist die Hand eines furchtbaren Croupiers, die ihn im Traum an den Ärmeln zupft. Alles, was er für frei entschieden oder Zufall gehalten hatte in seinem Leben, entpuppt sich jetzt im Rückblick als beeinflußt, wie ein präpariertes Roulettrad, stand unter einer Kontrolle, der nur der Endzweck wichtig war, die statistische Langzeit-Prognose, nicht das Individuum - wobei das Haus, versteht sich, immer mit Gewinn abschließt...
    "Du warst in London", wird sie gleich flüstern, sich zu ihrem Rad zurückwenden, es wieder in Drehung versetzen und, das Gesicht abgewandt, das nachtgestreifte Garn ihrer Vergangenheit fortspinnen, "als sie herunterkamen. Ich war in 's-Graven-hage -" seufzende Reibelaute, die Sehnsucht der Emigration in ihrer Aussprache "als sie aufstiegen. Zwischen dir und mir liegt nicht nur eine Raketenflugbahn, sondern ein ganzes Leben. Du wirst noch begreifen lernen, daß sie zwischen den beiden Punkten, in diesen fünf Minuten, ein ganzes Leben lebt. Du hast noch nicht einmal die Daten auf unserer Seite des Flugdiagramms kapiert, das Sichtbare und Meßbare. Dahinter aber gibt es so viel mehr, so viel, das keiner von uns kennt..." Doch diese Kurve spüren sie beide, ohne den Schatten eines Zweifels. Es ist die Parabel. Sie müssen es geahnt haben, ein-oder zweimal, und sich geweigert haben, es zu glauben, daß alles, kollektiv und stetig, sich auf diese schlackenlos gereinigte Latenz am Himmel zubewegt hat, diese Form ohne

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