Die Enden der Parabel
und März evakuiert wurde. Doch Ian Scuffling, das Reporter-As, ist sicher, unten in den Mittelwerken einen Anhaltspunkt zu finden.
Slothrop saß in einem schwankenden Eisenbahnwagen, zusammen mit dreißig anderen verfrorenen und abgerissenen Seelen, ihre Augen nur Pupille, ihre Lippen wund und aufgesprungen. Sie sangen, einige von ihnen. Es ist ein Displaced-Persons-Lied, und Slothrop wird es in der Zone noch oft zu hören kriegen, in den Lagern und auf den Straßen, in einem Dutzend Variationen:
Hörst du einen Zug heut abend
Pfeifen seinen schrillen Schrei, Leg dich auf dein Bretterlaken, Schlaf, und laß den Zug vorbei.
Züge riefen jede Nacht uns, Gelaufen tausend Meilen schon, Unterwegs durch leere Städte, Züge ohne Endstation.
Keiner steuert die Maschine, Keiner, der die Fahrt bewacht, Züge brauchen keine Menschen, Züge sind ein Stück der Nacht.
Bahnstationen liegen einsam, Wegerechte brach und kalt, Was wir verlassen, erben Züge, Züge fahren, wir werden alt.
Laß rufen sie wie arme Seelen, Laß sie schreien in den Wind -Züge sind für Nacht und Regen, Unser Gesang und Sünden sind.
Pfeifen werden herumgereicht. Rauchschwaden hängen vor dem feuchten Holz der Lüftungsgitter, werden in langen Fasern hinausgerissen in den Schraubenstrom der Nachtluft. Kinder keuchen im Schlaf, die rachitischen Babies weinen ... ab und zu wechseln die Mütter ein paar Worte miteinander. Slothrop brütet über seinem papierenen Mißgeschick.
Das Dossier der Schweizer Firma über L. (für Laszlo) Jamf registriert seine sämtlichen Aktivposten zu der Zeit, als er seine Arbeit in Zürich aufnahm. Offensichtlich hatte er, nominell Wissenschaftler, noch 1924 im Verwaltungsrat der Grössli-Chemiewerke gesessen. Zwischen Aktienoptionen und Beteiligungen an diversen deutschen Firmen die in den folgenden beiden Jahren vom Oktopus I. G. zusammengerafft werden sollten -finden sich auch Erwähnungen einer Geschäftsbeziehung, die Jamf mit einem Mr. Lyle Bland aus Boston, Massachusetts, unterhalten hatte.
Auf der Fährte, Sportsfreund! Lyle Bland ist ein Name, den Slothrop kennt. Und ein Name, der auch in den privaten Aufzeichnungen wiederkehrt, die Jamf über seine eigenen Geschäfte geführt hat. Demnach scheint Bland in den zwanziger Jahren eine ganze Menge mit den Unternehmungen der Stinnes-Gruppe in Deutschland zu tun gehabt zu haben. Hugo Stinnes war, bis sein Stern sank, das Wunderkind der europäischen Finanz. An der Ruhr, wo seine Familie Generationen von Schlotbaronen gestellt hatte, baute er sich ein ansehnliches Imperium aus Stahl, Strom, Gas, Wasser, Waggonfabriken und Binnenreedereien auf, noch ehe er dreißig war. Während des Weltkriegs arbeitete er eng mit Walther Rathenau, dem obersten Boss der gesamten Kriegswirtschaft, zusammen. Nach dem Krieg gelang es Stinnes, den horizontalen Elektrokonzern von Siemens-Schuckert mit dem Kohlen- und Erzfundament der Rhein-Elbe-Union zu einem Superkartell zusammenzuschließen, das über die Tiefe und über die Fläche zugleich gebot, und anschließend kaufte er von so gut wie allem übrigen hinzu - Werften und Schiffahrtslinien, Hotels, Restaurants, Wälder, Zellstoffwerke, Zeitungen ...
Inzwischen war er auch in die Währungsspekulation eingestiegen, kaufte Devisen mit Mark, die er sich von der Reichsbank geliehen hatte, drückte dadurch den Kurs und konnte sein Darlehen schließlich zu einem Bruchteil des ursprünglichen Wertes zurückzahlen. Mehr als jeder andere Finanzmann wurde er für die Inflation verantwortlich gemacht, jene Zeit, in der man Markmilliarden im Schubkarren zum täglichen Einkauf mitnahm oder sie als Klopapier benutzte, vorausgesetzt, daß man noch was zu scheißen hatte. Stinnes' Auslandsbeziehungen überzogen den ganzen Erdball - Brasilien, Ostindien, die Vereinigten Staaten -, und Geschäftsleute wie Lyle Bland fanden seine Wachstumsraten unwiderstehlich. Eine gängige Theorie jener Zeit vermutete, daß Stinnes mit Krupp, Thyssen und anderen konspirierte, um die Mark zu ruinieren und Deutschland auf diese Weise von seinen Kriegsschulden zu befreien.
Blands Rolle war unklar. Jamfs Aufzeichnungen erwähnen, daß er Verträge mit Papierherstellern über die Lieferung von Notgeld an Stinnes und Kollegen und von "Mefo-Schuldverschrei-bungen" an die Weimarer Republik ausgehandelt hatte -letztere einer von den vielen buchhalterischen Winkelzügen, mit deren Hilfe es Hjalmar Schacht gelang, die offiziellen Dokumente von allen Hinweisen auf die
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