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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Hafenarbeiters vorbeirauscht. Hinter den beiden vermischen sich die Düfte von Diesel und Sous le Vent. Jessica Swanlake, ein rosiges junges Mädchen in der Uniform einer Gemeinin vom weiblichen Hilfskorps, erkennt das Vorkriegsparfum, hebt den Kopf, hmm, das Kleid muß auch an die fünfzehn Guineen und wer weiß wie viele Marken gekostet haben, wahrscheinlich von Harrod's, mir würde es besser stehen, das ist mal sicher. Die Dame blickt jählings über die Schulter zurück, lächelt, ach tatsächlich? Herrje, ob sie gehört hat? Beinahe gewiß, an diesem Ort hier... Jessica steht neben dem Seance-Tisch, in der Hand ein Bündel Wurfpfeile, die sie geistesabwesend aus der Zielscheibe an der Wand gezupft hat, den Kopf gesenkt, so daß ihr bleicher Nacken und die oberen Halswirbel über dem dunkelbraunen Wollkragen durch die Strähnen von hellbraunem Haar hindurch sichtbar werden, die seitlich über ihre Wangen fallen. Messinghälse und -brüste beben, warm von ihrem Blut, in ihrer Handfläche. Sie scheint selbst, wie sie die Federkreuze streichelt, mit den Fingerspitzen über sie hinfährt, in eine leichte Trance gefallen zu sein... Draußen rollt von Osten das gedämpfte Reißen eines neuen Raketeneinschlags heran. Die Fenster klirren, der Boden vibriert. Die fühlsame Flamme taucht schutzsuchend unter, die Schatten über dem Tisch beginnen zu tanzen, verdunkeln sich zum Nebenzimmer hin - dann flackert sie hoch auf, die Schatten werden kürzer, fast einen halben Meter hoch, und verschwindet ganz. Gas strömt zischend in den dämmrigen Raum. Milton Gloaming, der seineB. A.-Honours in Cambridge vor zehn Jahren mit Auszeichnung absolviert hat, unterbricht sein Stenogramm, steht auf und dreht das Gas ab.
    Jetzt scheint Jessica der Augenblick gekommen, einen Wurfpfeil loszuschicken: genau einen Pfeil. Ihr Haar schwingt, ihre Brüste spielen unter den schweren, wollenen Aufschlägen der Uniform. Es zischt in der Luft, zock: hinein in die verfilzten Fasern, genau ins Schwarze. Milton Gloaming hebt eine Augenbraue. Sein Geist, der stets nach Zusammenhängen sucht, glaubt, einen neuen gefunden zu haben. Das Medium wirkt plötzlich reizbar, hat offenbar begonnen, aus seiner Trance zurückzukehren. Was mag wohl drüben, auf der anderen Seite, vorgefallen sein? Wie jede andere, so benötigt auch diese Seance neben dem kongenialen Zirkel im Diesseits noch ein fundamentales, vielfältiges Bündnis, das nirgends, an keiner Stelle, gestört werden darf: Roland Feldspath (den Geist),
    Peter Sachsa (die Kontrolle), Carroll Eventyr (das Medium), Selena (die Gattin und Überlebende). Irgendwo, durch Erschöpfung, Ablenkung, Böen von weißem Rauschen draußen im Äther, hat diese Konstellation begonnen, sich aufzulösen. Entspannung, quietschende Stühle, Seufzen und Räuspern ... Milton Gloaming fingert an seinem Notizbuch herum, schließt es abrupt.
    Sogleich kommt Jessica zu ihm herübergeschlendert. Roger ist nirgends zu sehen, und sie ist sich keineswegs sicher, daß er von ihr gesucht werden möchte. Gloaming ist zwar etwas gehemmt, aber immer noch erträglicher als mancher von Rogers anderen Freunden...
    "Roger sagt, daß Sie jetzt die Wörter zählen, die Sie eben mitgeschrieben haben, und dann ein Diagramm aufstellen oder so was", strahlt sie, um das Gespräch nicht auf den Pfeilwurf kommen zu lassen. "Machen Sie das nur bei den Seancen?" "Automatische Texte", der mädchenscheue Gloaming legt die Stirn in Falten, nickt, "auch ein oder zwei Versuche mit der Alphabettafel, ja... wir, wir versuchen, einen Katalog von Kurven aufzustellen - bestimmte Abweichungen, gewisse charakteristische Formen, Sie verstehen... " "Da bin ich nicht so sicher... "
    "Also. Denken Sie an Zipfs Prinzip der geringsten Anstrengung: Wenn wir die Häufigkeit eines Wortes P Index n in einem logarithmischen Koordinatensystem zu seiner lexikalischen Rangordnung n in Beziehung setzen", brabbelt er in ihr Schweigen, das nicht der Anmut entbehrt, "dann sollten wir natürlich eine mehr oder minder gerade Linie erhalten ... Tatsächlich haben wir aber Ergebnisse, die darauf hindeuten, daß die Kurven bei bestimmten - Zuständen... also, sie fallen ganz anders aus -bei Texten von Schizophrenen zum Beispiel verlaufen sie im oberen Teil flacher und fallen dann immer steiler ab - eine Art Bogenform ... Bei diesem Burschen, diesem Roland, scheinen wir einen klassischen Paranoiker erwischt zu haben..." "Ha!" Das ist ein Wort, mit dem sie etwas anfangen kann.
    "Hatte

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