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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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- Kontakt traten - mein Gott, was für ein schwachsinniger faschistischer Quark!" "Vorsicht, Mexico, Sie verlieren mal wieder die gute alte Objektivität. Sollte einem Mann der Wissenschaft nicht unterlaufen, so was. Ist doch kaum wissenschaftlich, oder?"
    "Sie sind ein Esel. Sie stehen auf der anderen Seite. Haben Sie denn heute abend nicht gespürt, wie es zur Tür hereingekommen ist? Ein großer Sumpf aus Paranoia." "Doch, doch, das ist schließlich mein Talent." Noch während er spricht, weiß Pirat, daß das zu unvermittelt kommt: "Ich bin nicht sicher, ob ich dem multiplen Zeug tatsächlich gewachsen bin", versucht er abzumildern.
    "Ach, Prentice." Und keine Augenbraue oder Lippe verzieht sich. Toleranz, ach ... "Sie sollten diesmal wirklich mit runterkommen und unseren Dr. Groast ein EEG schreiben lassen."
    "Ein andermal, wenn ich wieder in der Stadt bin." Prentice weicht aus. Hier gibt es ein Sicherheitsrisiko. Vorsicht, Feind hört mit! Er darf niemandem trauen, nicht einmal Mexico. Zu viele Kreise sind an der laufenden Operation beteiligt, weitere und engere, und je näher man dem Zentrum kommt, Ring um Ring, desto kürzer werden die Verteilerlisten, desto strenger die Sicherheitsbestimmungen, selbst Notizzettel und die Farbbänder der Schreibmaschinen müssen schließlich zur Vernichtung abgeliefert werden.
    Was Mexico betrifft, so nimmt der Pirat an, daß er nur ganz am Rande mit der neuesten Manie der Firma, der sogenannten Operation Schwarzer Flügel, zu tun hat. Daß er beispielsweise mit seinen statistischen Methoden das Material aufschlüsselt, das über die Kriegsverdrossenheit in Deutschland eingeht, womit er ziemlich an der
    Peripherie des Unternehmens bleibt -genau wie Pirat selbst in dieser Mittlerrolle, die er heute abend zwischen seinem Zimmergenossen Teddy Bloat und Mexico spielt. Er weiß, daß Bloat ständig irgendwo unterwegs ist und irgendwelche Aufnahmen auf Mikrofilm macht, die dann via Pirat an den jungen Mexico gehen. Von ihm gelangen sie, so nimmt Pirat an, weiter zur "Weißen Visitation", wo sich eine Dienststelle befindet, die als Sammelbecken für alle möglichen Sektierer gilt und auf das schöne Kürzel PISCES hört: Psychological Intelligence Schemes for Expediting Surrender. Ob mit surrender die deutsche Kapitulation gemeint ist oder etwas weniger Konkretes, wird nicht verraten.
    Pirat fragt sich, ob Mexico nicht noch einem weiteren der zahllosen alliierten Spitzelsysteme angehört, die überall in London aus dem Boden sprießen, seit die Amerikaner und ein Dutzend europäischer Exilregierungen hier eingezogen sind. Wodurch die Deutschen kurioserweise fast zu einer Nebensache geworden sind. Alle schielen sich unauffällig über die Schultern, freie Franzosen schmieden Rachepläne gegen Vichy-Verräter, Lublin-Kommunisten hetzen das Warschauer Schattenkabinett, ELAS-Griechen beschatten Royalisten, vaterlandslose Träumer vieler Sprachen hoffen, mit Willenskräften, Fäusten und Gebeten Könige, Republiken, Prätendenten oder Sommeranarchien zurückzuholen, die vergangen waren, ehe sie ihre Frucht getragen hatten ... Manche gehen elend zugrunde, namenlos unter Eis- und Schneedecken in Bombenkratern draußen im East End, wo man sie erst im Frühjahr finden wird - andere flüchten sich in Alkohol und Rauschgift, um die Widerwärtigkeiten ihrer Tage zu ertragen: fast alle aber sind Verlierer, auf die eine oder andere Art, verlieren ihre Seelen, verlernen zu vertrauen, gefangen in der Tretmühle ihrer Spiele, in täglichen Selbstzweifeln, im Zwang zu unablässiger Wachsamkeit... Und wer ist der Fremde, den Pirat im Sinn hat, wenn nicht dieser staatenlose Laskar, der ihn aus seinem eigenen Spiegel anblickt, dieser Ärmste unter den Heimatlosen ...
    Tja, er nimmt an, daß SIE dabei sind, Mexico in so ein byzantinisches Exerzitium hineinzulocken. Hat wahrscheinlich mit den Amerikanern zu tun, vielleicht auch mit den Russen. Die "Weiße Visitation" beschäftigt sich mit psychologischer Kriegführung und hat daher von jeder Sorte ein paar, hier Behavioristen, dort Pawlowianer. Ist zwar alles nicht Pirats Problem. Aber er bemerkt, daß Rogers Begeisterung mit jeder Filmlieferung wächst. Ungesund, ungesund: Er hat das Gefühl, die Entstehung einer Sucht zu beobachten. Er spürt, daß sein Freund, sein provisorischer Kriegsfreund, für etwas ausgenützt wird, was nicht ganz astrein ist. Was tun? Wenn Mexico darüber reden wollte, würde er schon Mittel und Wege finden, trotz aller

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