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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Gerüchte. Ihrer Chronologie kann man nicht trauen. Widersprüche schleichen sich ein. Perfekt, um einen Winter in Zentralasien damit totzuschlagen -wenn man nicht das Pech hat, Tschitscherin zu sein. Hat man es, dann steckt man in einer größeren Klemme. Dann bleiben einem, um über den Winter zu kommen, nur paranoide Spekulationen über den Grund, der einen hierher verschlagen hat... Es ist wegen Enzian, es muß wegen diesem verfluchten Enzian sein. Tschitscherin ist im Krasny Archiv gewesen, er hat die Dokumente, die Tage- und die Logbücher der epischen, fatalen Reise des Admirals Roschdestwenski eingesehen, von denen einige selbst jetzt, nach zwei Jahrzehnten, noch unter Verschluß gehalten werden. Und nun weiß er Bescheid. Und wenn sich alles in den Archiven befindet, dann wissen sie es auch. Lebenslustige junge Damen und deutsche Rauschgift-Vertreter sind in jeder Epoche der Geschichte Grund genug, einen Mann nach dem Osten zu verbannen, sie aber wären nicht sie, wenn ihre Idee von Strafe nicht mit einem Schuß Dante gewürzt wäre. Simple Vergeltung mag gut sein für Kriegszeiten, doch zwischen den Kriegen verlangt die Politik nach Symmetrie, nach einer eleganteren Konzeption von Gerechtigkeit, selbst bis zu dem Punkt, wo sie sich, ein wenig dekadent, das Mäntelchen der Gnade umhängt. Das ist komplizierter als Massenexekutionen, schwieriger und weniger befriedigend, aber es gibt Übereinkünfte, die Tschitscherin nicht sehen kann, Absprachen, die über ganz Europa reichen, vielleicht die ganze Welt, und sie vertragen zwischen den Kriegen keine allzu großen Störungen...
    Scheint also, daß im Dezember 1904 der Admiral Roschdestwenski mit einem Geschwader aus 42 russischen Kriegsschiffen in den Hafen von Lüderitzbucht in Südwestafrika einlief. Es war auf dem Höhepunkt des Russisch-Japanischen Kriegs. Roschdestwenski war auf dem Weg in den Pazifik, um Entsatz für die russische Pazifikflotte zu bringen, die seit Monaten von den Japanern in Port Arthur eingeschlossen war. Aus der Ostsee heraus, um Europa und Afrika herum, quer über den Indischen Ozean und am Ostrand Asiens entlang nach Norden sollte es eine der spektakulärsten Seereisen der Geschichte werden: sieben Monate und 18000 Seemeilen bis zu einem Frühsommertag in der Meerenge zwischen Japan und Korea, wo ein gewisser Admiral Togo, der die Russen längst erwartete, aus seinem Versteck hinter der Insel Tsushima herausgedampft kam und noch vor Einbruch der Dunkelheit aus Roschdestwenski Kleinholz gemacht hatte. Nur vier von den russischen Schiffe schafften den Durchbruch nach Wladiwostok - fast alle übrigen wurden von den gerissenen Japsen versenkt.
    Tschitscherins Vater war Kanonier auf dem Flaggschiff des Admirals, dem Suworow. Das Geschwader blieb eine Woche in Lüderitzbucht und versuchte, Kohlen zu bunkern. Stürme peitschten durch den überfüllten kleinen Hafen. Immer wieder wurde der Suworow gegen seine Kohlentender gedrückt, riß ihnen Löcher in die Flanken, beschädigte sich die meisten seiner Zwölfpfünder in den Seitentürmen. Böen heulten über das Schiff, naßkalter Kohlenstaub wurde hochgerissen und schlug sich überall nieder, auf Menschen und Stahl. Die Matrosen arbeiteten rund um die Uhr, bei Nacht im Licht der Deckscheinwerfer, schleppten ihre Kohlensäcke, halbblind vom grellen Licht, schaufelten, schwitzten, husteten, fluchten. Manche drehten durch, ein paar versuchten, sich umzubringen. Der alte Tschitscherin, nachdem er es zwei Tage mitgemacht hatte, schlich sich von Bord und wartete ab, bis es vorbei war. Er begegnete einem Herero-Mädchen, das seinen Mann bei dem Aufstand gegen die Deutschen verloren hatte. Es war nichts, was er geplant, was er auch nur zu träumen gewagt hätte, als er an Land gegangen war. Was wußte er schon von Afrika? Er hatte eine Frau zu Hause in Sankt Petersburg und ein kleines Kind, das sich kaum erst auf den Bauch drehen konnte. Weiter als bis Kronstadt war er in seinem Leben noch nicht gekommen. Er wollte nichts als sich erholen vom Kohlenbunkern und dem Bild, das es ihm bot... dem Schwarz-Weiß von Kohle und Bogenlicht und dem, was es ihm sagen zu wollen schien... dem Fehlen von Farbe und der Unwirklichkeit, die es mit sich bringt - einer vertrauten Unwirklichkeit aber, einer Warnung, daß Alles Nur Gespielt Wird Um Meine Reaktion Zu Prüfen Drum Darf Ich Keine Falsche Bewegung Machen... Am letzten Tag seines Lebens, wenn japanische Granaten von unsichtbar weit im Dunst entfernten

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