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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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seinen blickend. "Herr Pökler? Ich bin Ihre -" "Ilse. Ilse..."
    Er mußte sie hochgehoben, sie geküßt haben, den Vorhang zugezogen. Eine Art Reflex. Sie trug in ihrem Haar ein Band aus braunem Samt. Er hatte ihr Haar heller in Erinnerung, kürzer -aber schließlich wächst es ja und dunkelt auch nach. Seitlich spähte er in ihr Gesicht, während all seine Leere in ihm widerhallte. Das Vakuum seines Lebens drohte in einem einzigen Einströmen von Liebe zerstört zu werden. Er versuchte, es mit Siegeln des Argwohns zu erhalten, suchte nach Spuren von Ähnlichkeit mit dem Gesicht, das er zuletzt Vorjahren gesehen hatte, über der Schulter ihrer Mutter, die Augen noch von Schlaf verquollen, hinunterblickend auf Lenis Regenmantelrücken, der sich durch eine Tür entfernte, die er für immer geschlossen geglaubt hatte ... Er redete sich ein, keine Ähnlichkeit zu entdecken. Vielleicht redete er es sich ein. War es denn wirklich dasselbe Gesicht? Er hatte soviel davon verloren in den Jahren, von jenem rundlichen, verwechselbaren Kindergesicht... Jetzt hatte er sogar Angst, sie zu halten, Angst, daß sein Herz bersten könnte. Er sagte: "Wie lange wartest du schon?"
    "Seit dem Mittagessen." Sie hatte in der Kantine gegessen. Major Weißmann hatte sie mit dem Zug von Stettin hergebracht, und sie hatten Schach gespielt. Major Weißmann war ein langsamer Spieler, und sie hatten die Partie nicht beendet. Major Weißmann hatte ihr Süßigkeiten gekauft und ihr Grüße aufgetragen und es täte ihm leid, daß er nicht lange genug bleiben könne, um Pökler zu begrüßen -Weißmann? Was sollte das heißen? Eine blinzelnde, vorsichtige Wut stieg in Pökler hoch. Sie mußten alles gewußt haben - all diese Jahre. Sein Leben war geheimnislos wie dieses mickrige Zimmer mit diesem Bett und der Kommode und der Leselampe. So hatte er, um zwischen ihn und diese undenkbare Wiederkehr zu treten, seine Wut - um ihn zu schützen vor einer Liebe, die er nicht wirklich riskieren konnte. Er konnte sich damit begnügen, seine Tochter auszufragen. Die Scham, die er dabei empfand, war erträglich, die Scham und die Kälte. Doch sie mußte sie gespürt haben, denn sie saß nun sehr still, unruhig nur ihre Füße, und ihre Stimme war so leise, daß ihm Teile ihrer Antworten entgingen.
    Sie hatten sie von einem Ort in den Bergen hergeschickt, wo es selbst im Sommer kühl blieb - einem Ort, der umgeben war von Stacheldraht und grellen Suchscheinwerfern, die die ganze Nacht über brannten. Es gab dort keine Jungen -nur Mädchen, Mütter, alte Damen, die in Baracken hausten, aufgeschichtet in Etagenbetten, oft zwei auf einer Pritsche. Leni war gesund. Manchmal kam ein Mann in einer schwarzen Uniform in die Baracke, und Mutti ging dann immer mit ihm weg und blieb gleich einige Tage fort. Wenn sie zurückkam, wollte sie nicht sprechen, Ilse nicht einmal umarmen, wie sie es sonst immer tat. Manchmal weinte sie, dann bat sie Ilse, sie allein zu lassen. Ilse ging dann hinaus und spielte mit Johanna und Lilli unter den Nachbarbaracken. Sie hatten sich dort im Schmutz ein Versteck gegraben, hatten es mit Puppen, Hüten, Kleidern, Schuhen, alten Flaschen, Zeitschriften mit Bildern ausstaffiert, alles draußen vom Stacheldraht, Schatzhaufen nannten sie's, eine riesige Müllhalde, die immer schwelte, Tag und Nacht. Man konnte ihre rote Glut durchs Fenster sehen, vom oberen Bett aus, wo sie mit Lilli schlief, die Nächte, wenn Leni fort war...
    Doch Pökler hörte kaum noch zu: Er hatte das einzige Faktum von Wert - daß sie an einem bestimmten Ort war, mit Koordinaten auf der Karte und einer Verwaltung, an die man sich vielleicht wenden konnte. Wäre er in der Lage, sie zu finden? Idiot. Konnte er auf irgendeine Weise ihre Freilassung erreichen? Irgendein Mann, irgendein Roter, mußte sie da hineingezogen haben... Kurt Mondaugen war der einzige, dem er vertrauen konnte, obwohl Pökler, schon bevor sie miteinander sprachen, wußte, daß Mondaugens selbstgewählte Rolle ihn daran hindern mußte, ihm zu helfen. "Sie nennen sie Umerziehungslager. Sie werden von der SS verwaltet. Ich könnte mit Weißmann reden, aber vielleicht nützt es nichts."
    Er kannte Weißmann schon aus Südwest. Sie hatten die Monate der Belagerung in Foppls Landhaus zusammen verbracht: Weißmann war einer von jenen gewesen, die Mondaugen schließlich hinaus in den Busch getrieben hatten. Hier jedoch hatte sich eine Annäherung zwischen ihnen vollzogen, inmitten der Raketen, entweder aus

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