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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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heutigen Abends - sie wird Wladimir heißen (oder Ilja, Sergei, Nikolai, das hängt von der Laune des Doktors ab) -schleicht vorsichtig auf den Kellereingang zu. Diese ausgezackte Öffnung sollte eigentlich zu etwas Tiefem und Sicherem führen. Er erinnert sich (oder ist es ein Reflex?) an ähnliche Dunkelheit, in die er vor einem Irish-Setter flüchtet, der nach Kohlenrauch riecht und mit dem ersten Blick angreifen wird ... ein anderes Mal vor einem Rudel Kinder, kürzlich vor einem jähen Schlag aus Lärm und Licht, einem Ziegelregen, der ihn an der linken Flanke erwischt hat (noch nicht verheilt, muß noch geleckt werden). Doch die Gefahr von heute nacht ist etwas Neues: nicht offene Gewalt, sondern planvolle Arglist, etwas, an das er nicht gewöhnt ist. Das Leben hier draußen ist doch viel direkter. Es nieselt. Der Wind regt sich kaum. Er bringt einen Geruch mit, der ihm seltsam vorkommt, ist er doch in seinem ganzen Leben noch nie in die Nähe eines Laboratoriums gekommen. Der Geruch ist Äther, er entspringt einem Mr. Edward W. A. Pointsman, F.R.C.S. Als der Hund hinter den geborstenen Überresten einer Mauer verschwindet, gerade als seine Schwanzspitze davonwedelt, tritt der Doktor in den weißen, lauernden Schlund einer Kloschüssel, die er, in seiner Beutegier, ganz übersehen hat. Angewidert bückt er sich und zerrt die Schüssel aus ihrem Schutthaufen heraus, wobei er leise Flüche wider alle Unachtsamen ausstößt und damit nicht sich selber meint, sondern die Eigentümer dieser zerbombten Wohnung (falls noch am Leben) oder eben denjenigen, der die Kloschüssel hier im Stich gelassen hatwelche offensichtlich ganz schön fest zu sitzen scheint...
    Mr. Pointsman schleift sein Bein hinüber zu einem zertrümmerten Stiegenauf gang, schwingt es leise, um den Hund nicht zu verscheuchen, gegen die untere Hälfte eines dunklen Eichenpfostens, der das Treppengeländer abschließt. Die Schüssel gibt nur einen hohlen Ton von sich, das Holz zittert. Das Zeug lacht ihn aus, na schön. Er setzt sich auf die Treppenstufen, die hinauf in den offenen Himmel führen, und versucht, das verdammte Porzellanding von seinem Fuß herunterzustreifen. Nichts zu machen. Er hört den unsichtbaren Hund auf leisen Krallen das rettende Asyl des Kellers ansteuern. Nicht einmal hineinfassen kann er in die Kloschüssel, um wenigstens diesen beschissenen Stiefel aufzuschnüren...
    Nur keine Panik jetzt! Nachdem er seinen wollenen Kopfschützer so zurechtgezupft hat, daß ihn der Augenschlitz genau unter der Nase kitzelt, steht Mr. Pointsman auf, muß einen Augenblick warten, bis das gestaute Blut sich löst, zu fließen beginnt, in der nieselnden Nacht durch Millionen von Adern pulsiert, sein Gleichgewicht wiederfindet - dann humpelt er unter klirrenden Geräuschen zurück zum Wagen, um sich vom jungen Mexico helfen zu lassen, der hoffentlich daran gedacht hat, die Taschenlampe mitzubringen...
    Roger und Jessica haben ihn kurz vorher gefunden, lauernd, am Ende einer Häuserzeile. Die V-Bombe, in deren Wunden er nach Beute spähte, hatte vor wenigen Tagen vier Häuser aus der Straße herausgerissen, genau vier, exakt wie mit einem Skalpell. In der Luft hängt der sanfte Geruch von Bauholz, das vor der Zeit gefällt worden ist, von Asche, die der Regen gelöscht hat. Man hat Stricke gespannt, ein Wachtposten lümmelt schweigend am Tor eines unbeschädigten Hauses, neben dem die Trümmer beginnen. Falls er und der Doktor überhaupt miteinander gesprochen haben, so lassen sie es sich jetzt jedenfalls nicht anmerken. Jessica sieht zwei Augen von unbestimmter Farbe hinter dem Sehschlitz eines wollenen Kopfschützers funkeln und fühlt sich an einen mittelalterlichen Ritter in seiner Sturmhaube erinnert. Welches Wesen soll dieser Mann wohl heute für seinen König erlegen? Die Trümmerhalde wartet auf ihn, eine gegen geborstene Brandmauern getürmte Schuttschräge, aus der ziellos Lattenwerk klafft - Fußbodenbretter, Möbelteile, Glas, Gipsbrocken, lange Bahnen zerfetzter Tapete, gespaltenes, zersplittertes Gebälk: ein Nest, von irgendeiner Frau in langen Jahren zusammengetragen, nun wieder in einzelne Halme zerlegt, dem Wind und der Dunkelheit zurückgegeben. Im Hintergrund blinzelt ein Messing-Bettpfosten aus dem Verfall: darumgeschlungen ein Büstenhalter, weiß, Vorkriegsmode, aus Spitze und Satin, einfach in seiner Verstrickung zurückgelassen... Für einen Augenblick überkommt Jessica ein unbezähmbares Schwindelgefühl, all das

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