Die Enden der Parabel
paß auf, daß du deinen Rock mit reinkriegst, ich möchte nicht mitten auf den Straßen von Tunbridge Wells einen unaussprechlichen Akt begehen -" In diesem Augenblick schlägt die Rakete ein. Prima Timing. Ein dumpfer Donner, fernes Grollen, zu weit in Richtung London, um ihnen gefährlich werden zu können, aber nahe und laut genug, um die hundert Meilen zwischen ihr und dem Fremden mit einem Schlag zu überbrücken: Mit einem geschmeidigen grand jete setzt sie an Bord, ihr wundervoller, runder Hintern gleitet in den Beifahrersitz, Haar fliegt sekundenkurz auf, die Hand streift den armeefarbenen Rock grazil wie einen Flügel unter, all dies, während das Echo des Einschlags noch nachhallt. Er glaubt, im Norden ein feierliches, knorriges Etwas aufsteigen zu sehen, das Form und Farbe rascher ändert als eine Wolke. Wird sie sich jetzt ganz süß an ihn schmiegen und ihn bitten, sie zu beschützen? Er hat nicht im Traum damit gerechnet, daß sie tatsächlich einsteigen würde, Rakete hin oder her, also erwischt er jetzt den Rückwärtsgang anstatt des ersten und rollt mit Pointsmans Jaguar genau über das Fahrrad weg, zermalmt es mit sattem Krachen zu Schrott.
"Ich bin in Ihrer Gewalt!" schreit sie. "Ganz und gar."
"Hmm", macht Roger, findet endlich den richtigen Gang, tanzt über die Pedale, und wrummm, ab nach London. Aber Jessica ist nicht in seiner Gewalt. Und der Krieg, nun, er ist Rogers Mutter. Er ist eine Mutter, die all die mürben, verletzlichen Einschlüsse von Hoffnung und Begeisterung herausgelöst hat, die unter dem tarnenden Glimmer in Rogers mineralischem Grabstein-Ich verborgen waren, die alles hinweggespült hat mit ihrer klagenden, grauen Flut. Sechs Jahre nun schon, immer gerade in Sichtweite, immer gerade so, daß er sie sehen kann. Seine erste Leiche hat er längst vergessen und auch das erste Mal, da er einen Lebenden sterben sah. So lange geht das nun schon. Die meiste Zeit seines Lebens, wie ihm scheint. Heute ist die Stadt, die er besucht, ein Vorzimmer des Todes. Die Schreibtischarbeiten werden dort erledigt, die Verträge unterzeichnet, die Tage gezählt. Nichts ist mehr übrig von der großen, grünen, abenteuerlichen Hauptstadt seiner Kindheit. Er ist zum Mürrischen Jungen Mann von der "Weißen Visitation" geworden, zur Spinne, die emsig ihr Netz aus Ziffern webt. Es ist ein offenes Geheimnis, daß er mit den übrigen Leuten in seiner Abteilung nicht zurechtkommt. Wie sollte er auch? Sie sind alle ziemlich ausgefallene Begabungen - Hellseher und kuriose Zauberkünstler, Telekinetiker, Astralreisende, Lichtersammler. Roger dagegen ist Statistiker. Er hat noch nie einen prophetischen Traum geträumt, noch nie eine telepathische Botschaft empfangen oder gesendet, noch nie direkten Kontakt mit der Anderen Welt gehabt. Falls irgend etwas dran sein sollte, wird es sich schon in den experimentellen Daten niederschlagen, in Zahlen, wo sonst?
Näher wird er der Sache nicht kommen, mehr nie verstehen. Wen nimmt es da wunder, daß er ein wenig über Kreuz ist mit der Psi-Sektion, all den 3-Sigma-Typen auf seinem Korridor im Tiefparterre. Herrgott, es ginge euch genauso! Diese eine, klare Forderung, die sie so unmißverständlich an ihn richten, erbittert ihn. Gut, okay, er selber fordert das gleiche. Aber wie soll es je gelingen, etwas "Übersinnliches" wissenschaftlich zu untermauern, wenn gleich neben den Chi-Quadrat-Ansätzen, im leisen Schnipsen der Zenerkarten oder in den Pausen zwischen den gestammelten Worten des Mediums, die eigene Sterblichkeit auf einen lauert? In seinen versöhnlicheren Augenblicken glaubt er, daß er sich Mut beweist, wenn er trotzdem weitermacht. Meistens aber verflucht er sich selbst dafür, daß er nicht in einem Feuerleitstand arbeitet oder gemittelte Tötungsraten pro Tonne für die Bomberstaffeln berechnet. Alles lieber als diese müßige Einmischerei in die Angelegenheiten des unverwundbaren Todes...
Vor ihnen hängt glühender Feuerschein über den Dächern. Löschzüge rasen mit heulenden Sirenen an ihnen vorüber, in gleicher Richtung. Sie befinden sich in einem trüben Viertel aus Ziegelstraßen und schweigenden Mauern.
Roger bremst vor einer Gruppe von Pionieren, Feuerwehrmännern, Nachbarn in dunklen Mänteln über weißen Nachtgewändern, alten Damen, in deren nächtlichen Träumen die Feuerwehr einen ganz speziellen Platz einnimmt nein bitte! Sie werden mich doch nicht mit diesem riesigen Schlauch ... nein, nicht!... wollen Sie nicht wenigstens
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