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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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"Vielleicht ist das ein Zeichen. Vielleicht sollte ich neue Möglichkeiten erschließen." Roger mißt ihn mit einem raschen Blick. Ruhig, Mexico. Versuche nicht, herumzurätseln, was das wieder bedeuten soll. Pointsman ist schließlich und endlich nicht sein Vorgesetzter, sie unterstehen beide dem alten Brigadier in der "Weißen Visitation", und zwar gleichrangig, soweit er weiß. Aber manchmal - Roger läßt seinen Blick wieder über Jessicas dunklen Wollbusen hinweg zu dem gestrickten Kopf, der nackten Nase und den nackten Augen schweifen -, manchmal hat er das sichere Gefühl, daß der Doktor mehr von ihm will als seine Bereitschaft, seine Mitarbeit. Daß er ihn selbst will, mit Haut und Haar. So wie man einen besonders schönen Hund besitzen möchte...
    Wieso ist er dann überhaupt hier und hilft, noch einen anderen Hund zu fangen? Welchen Fremdling birgt er in sich, so verrückt?
    "Wollen Sie heute abend noch zurückfahren, Doktor? Ich muß die junge Dame hier nach Hause bringen."
    "Nein, ich bleibe hier. Aber Sie könnten den Wagen mitnehmen. Ich muß mit Dr. Spectro sprechen."
    Sie nähern sich einer breit hingestreckten Improvisation aus Backstein, einer viktorianischen Paraphrase dessen, was einst in
    gotischen Kathedralen kulminiert hattesich aber, in seiner späten Zeit, nicht mehr aus dem Bedürfnis eines Aufstiegs durch Konstrukte schicklicher Verwirrung hinauf zum Gott der Spitze, sondern eher, in einer Unsicherheit über das Ziel, einem Zweifel am Ort dieses Gottes (oder, bei manchen, an dessen tatsächlicher Existenz), aus einer grausamen Verstrickung in sinnliche Augenblicke erhob, die niemand mehr zu übersteigen wußte und die die Intentionen der Erbauer beugten, weg vom Zenit, zurück zur Angst, zur simplen Flucht, in welche Richtung immer, vor dem, was die Rauchfahnen der Fabriken, die Auswürfe der Straßen, die fensterlosen Löcher der Mietskasernen, die achselzuckenden Riemenwälder der Transmissionen, die fließenden und geduldigen Schattenreiche der Ratten und Fliegen von der Aussicht auf Gnade in jenem Jahr berichteten. Die rußverschmutzte Ziegelstreuung ist unter dem Namen "Spital zur Hl. Veronika vom Wahren Bildnis Jesu für Erkrankungen der Atemwege und des Dickdarms" bekannt, und einer ihrer Bewohner ist ein gewisser Dr. Kevin Spectro, Neurologe und Gelegenheits-Pawlowianer. Spectro ist einer der ursprünglichen Sieben Besitzer des Buches, und fragt man Mr. Pointsman, von welchem Buch denn da die Rede sei, so kriegt man nur ein süßliches Grinsen zur Antwort. Es läuft auf wöchentlicher Basis unter seinen Gemeinschaftseigentümern um, das mysteriöse Buch, und diese Woche ist wohl Spectro dran, vermutet Roger, zu den unmöglichsten Stunden deswegen behelligt zu werden. Andere sind, in Pointsmans Wochen, genauso nachts zur "Weißen Visitation" gekommen, wo Roger ihr wichtigtuerisches, ernstes Verschwörergeflüster oft genug auf den Gängen gehört hat, das forsche Trappen all der Schuhe, das nach Tanzpumps auf Marmor klingt und einem die Nachtruhe raubt, wenn es trotz zunehmender Entfernung nicht leiser werden will, Pointsmans Stimme und Schritt immer deutlich über den anderen. Wie wird das jetzt mit der Kloschüssel klingen?
    Roger und Jessica setzen den Doktor bei einem Seiteneingang ab, dessen Schatten ihn aufsaugen und nur den Regen zurücklassen, der aus den Senken und Serifen einer unleserlichen Inschrift über dem Torbogen tropft.
    Sie wenden in Richtung Süden. Die Lichter des Armaturenbretts glühen warm, Suchscheinwerfer wandern über den verregneten Himmel. Der schnittige Wagen zittert über die Straßen. Jessica döst langsam ein, ihr Ledersitz knarzt, als sie sich zum Schlafen zusammenrollt. Die Scheibenwischer teilen den Regen in hellen, rhythmischen Mustern. Zwei Uhr vorbei, Zeit, daß sie nach Hause kommen.

 [1.8] Pavlov

    Im Spital zur Hl. Veronika sitzen sie beisammen, gleich neben der Kriegsneurosenstation, ein Abend wie so viele andere auch. Im Autoklav köchelt silbriges Gewirr aus stählernem Gebein. Dampfschwaden treiben um den Lichtkegel der Schreibtischlampe, leuchten hin und wieder hell auf, werfen das jähe Auf und Ab der gestikulierenden Schatten messerscharf zurück. Die Gesichter der beiden Männer aber bleiben meistens unbewegt, wohlverwahrt im Dunkelkreis der Nacht. Aus der Schwärze des Krankensaals - eine halboffene Schublade voller Schmerzen, jedes Bett ein Aktenordner - tönen Schreie wie angeschlagenes, kaltes Metall. Ein dutzendmal in dieser

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