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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Mitleid, das sich in ihrem Herzen aufgestaut hat, fliegt diesem zarten weißen Ding zu wie einem kleinen Tier, das irgendwo verlassen in der Falle sitzt. Roger hat den Kofferraum des Wagens geöffnet. Die beiden Männer rumoren darin herum, kommen mit einem großen Sack aus Segeltuch wieder zum Vorschein, mit Ätherflasche, Netz, Hundepfeife. Sie weiß, daß sie nicht weinen darf: daß diese unbestimmten Augen hinter dem gestrickten Mützenfenster ihr Beutetier nicht weniger sorgfältig suchen werden um ihrer Tränen willen. Aber dieses arme, verlorene, zierliche Ding, das dort in Nacht und Regen
    auf seine Besitzerin wartet und darauf, daß das Zimmer ringsumher wieder ganz werden möge ...
    Die Nacht, voll feiner Regentropfen, riecht wie ein nasser Hund. Pointsman scheint kurz weggewesen zu sein. "Ich muß den Verstand verloren haben. Ich könnte mich an Beaver kuscheln in diesem Augenblick, ich könnte ihm zuschauen, wie er seine Pfeife anzündet, und statt dessen bin ich hier draußen, bei diesem ... diesem Jagdgehilfen, diesem Spiritisten oder Statistiker oder was bist du überhaupt -" "Kuscheln?" Roger neigt zum Brüllen. "Kuscheln?" "Mexico!" Es ist der Doktor, ächzend, eine Kloschüssel um den Fuß, der gestrickte Helm verrutscht.
    "Hallo, macht Ihnen das beim Gehen denn keine Schwierigkeiten? Würde ich doch meinen... rauf hier damit! Zuerst stecken Sie's mal durch die Tür, so, ja, gut so." Die Wagentür schließt sich um Pointsmans Knöchel, die Kloschüssel nimmt Rogers ganzen Sitz ein, Roger lehnt halb auf Jessicas Schoß. "Und jetzt ziehen, ziehen, so fest Sie können!"
    Junger Schnösel und zynischer Sack denkt sich der Doktor, stützt sich ganz auf sein Standbein, rüttelt und grunzt: die Schüssel schlingert hin und her. Roger hält die Tür fest und späht aufmerksam in das Loch, in dem der Fuß verschwindet. "Wenn wir nur etwas Vaseline hätten ... irgendwas Schlüpfriges. Moment! Bleiben Sie hier, Pointsman, bewegen Sie sich nicht, gleich haben wir's ..." Schon ist er unter dem Wagen, der impulsive Bursche, sucht nach dem Ölhahn vom Kurbelgehäuse, noch ehe Pointsman sagen kann: "Wir haben keine Zeit, Mexico, er entkommt uns, er entkommt!"
    "Stimmt." Taucht wieder auf und nestelt eine Taschenlampe aus der Jackentasche. "Ich werde ihn aufstöbern, Sie warten mit dem Netz. Glauben Sie, daß Sie zurechtkommen? War Pech, wenn Sie hinfielen oder so, gerade wenn er durchbrechen will."
    "Um Himmels willen", Pointsman humpelt hinter ihm in die Ruine, "erschrecken Sie ihn nicht, Mexico, wir sind hier nicht in
    Kenia oder sonstwo im Busch. Wir brauchen ihn in halbwegs normativem Zustand, verstehen Sie!" Normativ? Normativ?
    "Roger", bestätigt Roger, während er mit der Taschenlampe kurzlangkurz signalisiert. "Jessica", murmelt Jessica, die auf Zehenspitzen hinter ihm herschleicht. "Hier, Kamerad", lockt Roger. "Hier haben wir ein hübsches Fläschchen Äther für dich", er öffnet die Flasche und wedelt damit vor dem Kellereingang hin und her, dann schaltet er den Lichtstrahl ein. Der Hund guckt aus einem alten, rostigen Kinderwagen hervor, tanzende schwarze Schatten, die Zunge hängt ihm aus dem Maul, auf seinem Gesicht malt sich blanke Skepsis. "Aber das ist doch Mrs. Nussbaum!" ruft Roger, genau wie er's von Fred Allen jeden Mittwochabend in der BBC gehört hat.
    "Nu, was hamse geglaubt, vielleicht de Lessie?" entgegnet der Hund. Roger riecht die starken Ätherdämpfe ziemlich deutlich, während er vorsichtig hinuntersteigt. "Jetzt stell dich nicht so an, Freundchen, es ist gleich überstanden, bevor du's überhaupt weißt. Pointsman möchte doch nur deine popligen Speicheltropfen zählen, weiter nichts. Will dir einen winzig kleinen Einschnitt in die Wange machen, ein nettes Glasröhrchen, kein Grund zur Beunruhigung, was? Ab und zu darfst du sogar eine Glocke läuten. Die aufregende Welt des Laboratoriums, du wirst unheimlich darauf stehn!" Äther nebelt ihn ein. Er versucht, die Flasche wieder zuzustöpseln, macht einen Schritt vorwärts, sein Fuß bricht in ein Loch. Seitlich wegsackend, tappt er nach einem Halt. Der Stöpsel fällt wieder raus aus der Flasche und für immer hinunter in den Schutthaufen am Grunde des zerschmetterten Gebäudes. Oben brüllt Pointsman: "Den Schwamm, Mexico, Sie haben den Schwamm vergessen!" Herab kollert eine bleiche, runde Ansammlung von Löchern, hüpft durch den Lichtstrahl der Lampe, verschwindet. "Immer lustig", kommentiert Roger und grapscht beidhändig

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