Die Enden der Parabel
merkwürdige, kitzelnde Angst, daß sie vielleicht tatsächlich verloren sind, daß es in Wirklichkeit gar keine Kamera gibt am Ufer hinter dem feinen grauen Gekritzel der Weiden ... daß sich das ganze Team, Ton, Requisite, Licht, verdrückt hat ... oder niemals da war... und was haben die Strömungen gerade herangespült, um an unserer schneeweißen Nußschale anzuklopfen? Und was war dieser dumpfe Aufschlag eben, so steif und stumm?
Bianca ist im allgemeinen Silber, oder ganz ohne Farbe: Tausende von Malen aufgenommen, gebrochen und gebeugt durch Glas, durch die lila blutenden Grenzflächen von Doppel- und Triple-Protaren, Schneider Angulons, Voigtländer Collinearen, Steinheil Orthostigmaten, Gundlach-Turner-Reichs von 1895 ... Für Greta ist es jedesmal die Seele ihrer Tochter, eine unerschöpfliche Seele ... dieser Schal eines einzigen Kindes, in der Taille festgesteckt, immer schutzlos dem Wind preisgegeben. Sie eine Erweiterung des Egos ihrer Mutter zu nennen bedeutet, bitterstem Sarkasmus Tür und Tor zu öffnen, klar. Doch hin und wieder ist es Greta möglich, Bianca in anderen Kindern zu erkennen, geisterhaft wie eine Doppelbelichtung... deutlich zum Beispiel, ja, sehr deutlich, in Gottfried, dem jungen Schatz und Protege des Hauptmanns Blicero.
"Schieb mal einen Augenblick meine Träger runter. Ist es dunkel genug? Schau! Thanatz sagte, sie würden leuchten. Und daß er jede einzelne auswendig kenne. Sie sind sehr weiß heute, nicht wahr? Hmm. Lang und weiß, wie Spinnweben. Auf meinem Hintern sind sie auch. Auf den Innenseiten meiner Schenkel..." Häufig, wenn es vorüber war, wenn das Blut nicht mehr floß und er die Wunden mit Alkohol abgetupft hatte, pflegte Thanatz sie sich über die Knie zu legen und aus den Narben auf ihrem Rücken zu lesen, so wie Zigeuner Handlinien lesen. Lebensnarbe, Herznarbe. Croix mystique. Was für Schicksale und Phantasien! Er war so erregt, nach den Auspeitschungen. So besessen von der Vorstellung, daß sie Erfolg haben, daß sie entkommen würden. Er schlief meistens ein, ehe ihn Wildheit und Hoffnung ganz verlassen hatten. In solchen Augenblicken liebte sie ihn am meisten, kurz vor dem Einschlafen, ihr ganzer Rücken in Flammen und sein kleiner Kopf schwer auf ihrer Brust, während sich auf ihren Wunden, geräuschlos und schweigend, neues Narbengewebe bildete, Zelle um Zelle, die ganze Nacht hindurch. Sie fühlte sich beinahe geborgen ...
Bei jedem Hieb, der sie traf, hilflos der Peitsche ausgeliefert, sah sie ein Bild vor Augen, für jeden Gipfel des Schmerzes genau eins: das Auge an der Spitze der Pyramide. Die Opferstadt, bevölkert von Gestalten in rostroten Roben. Die dunkle Frau, wartend am Ende einer Straße. Das verhüllte Gesicht eines sorgenvollen Dänemark, das sich über Deutschland beugt. Den kirschroten Kohlenregen in der Nacht. Bianca als spanische Tänzerin, den Lauf eines Gewehrs liebkosend ... In den Kiefernwäldern bei einer Schußstelle entdeckten Thanatz und Gretel eine alte Straße, die von niemandem mehr benutzt wurde. Reste des Pflasters waren hier und da im grünen Unterholz zu sehen. Es schien, als würden sie, wenn sie der Straße folgten, zu einer Stadt gelangen, einer Station, einem Außenposten ... was genau sie finden würden, war ihnen nicht klar. Aber in jedem Fall würde der Ort seit langem verlassen sein.
Sie hielten einander an den Händen. Thanatz trug eine alte Jacke aus grünem Wildleder, mit Flicken über den Ellbogen. Gretel hätte ihren Kamelhaarmantel an, und ein weißes Tuch. An manchen Stellen waren Kiefernnadeln über die alte Straßendecke geweht, so tief, daß ihre Schritte im Geräuschlosen versanken. Sie kamen zu einer Stelle, wo die Straße vor Jahren unterspült worden und abgerutscht war. Geröll streute sich wie Salz und Pfeffer über den Einbruch zu einem Fluß hinunter, den sie hören, aber nicht sehen konnten. Ein Autowrack, ein Hanomag "Sturm", hing mit der Nase nach unten, eine Tür aufgerissen, über der Kante. Das lavendelgraue Metallgehäuse war abgenagt wie das Skelett eines Rehs. Irgendwo in diesen Wäldern mußte das Wesen stecken, das das getan hatte. Sie schlichen um das Wrack herum, ängstlich darauf bedacht, dem spinnennetzigen Glas nicht zu nahe zu kommen, der brutalen Tödlichkeit in den Schatten des Fahrersitzes. Versteckt in den Bäumen waren Überreste von Häusern zu erkennen. Das Licht begann jetzt schwächer zu werden, obwohl es noch Vormittag war und der Wald hier auch nicht dichter wurde.
Weitere Kostenlose Bücher