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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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doch immer noch der Löwe. Ein Löwe steckt in jedem einzelnen von Ihnen. Er kann gezähmt werden - von zuviel Mathematik, der Kleinarbeit der Konstruktion, den Zwängen der Konzerne -, oder er bleibt wild, ein ewiges Raubtier. Der Löwe kennt keine Subtilitäten, keine halben Lösungen. Gemeinsamkeit und Teilung sind für ihn keine Basis, wofür auch immer. Der Löwe nimmt, und behält! Er ist kein Bolschewik oder Jude. Sie werden ihn nie von Relativität reden hören. Er will das Absolute. Leben und Tod. Gewinnen und Verlieren. Keinen Waffenstillstand, keine Abkommen, sondern die Lust des Sprungs, das Brüllen, das Blut." Wenn das die nationalsozialistische Chemie war, dann mußte jenes ungreifbare Etwas-in-der-Luft, der Zeitgeist, daran schuld sein. Sicher, dem kann man's aufhalsen. Prof. Dr. Jamf war keineswegs immun. Sein Student Pökler genausowenig. Doch durch die Jahre von Inflation und Depression begann Pöklers Bild des "Löwen" menschliche Züge anzunehmen, ein Gesicht zu erhalten, ein Kinogesicht natürlich: das des Schauspielers Rudolf Klein-Rogge, den Pökler verehrte und dem er gleichen wollte.
    Klein-Rogge schleppte schon mannbare Schauspielerinnen auf Dachfirste, als King Kong noch an der Mutterbrust und motorisch eine Null war. Tja, eine mannbare Schauspielerin zumindest, nämlich Brigitte Helm in Metropolis. Ein toller Film. Genau die Welt, von der Pökler, und ganz offensichtlich auch ein paar andere, zu jener Zeit träumten, ein korporativer Stadtstaat, in dem die Technik die Quelle der Macht war, in dem Ingenieur und Verwalter eng zusammenarbeiteten, die Massen unsichtbar tief im Untergrund schufteten und die letzte Befehlsgewalt bei einem einzelnen Führer an der Spitze lag, der väterlich und wohlwollend und gerecht war, der wundervoll aussehende Gewänder trug und an dessen Namen sich Pökler nicht erinnern konnte, war er doch zu ergriffen von Klein-Rogges Darstellung des wahnsinnigen Erfinders, der Pökler und seine Kommilitonen unter Jamf so leidenschaftlich gerne selbst gewesen wären -unentbehrlich für jene, die die Metropolis verwalteten, und doch am Ende der unbezähmbare Löwe, der alles zugrunde gehen lassen konnte, das Mädchen, den Staat, die Massen, sich selbst, als er seine Realität gegen sie alle in einem letzten brüllenden Sprung vom Dach hinunter auf die Straße behauptete ... Eine kuriose Stärke. Was immer sich die wahren Visionäre aus den harschen Notationen jener Tage und Großstadtstraßen herauspickten, was immer Käthe Kollwitz sah, das ihren ausgemergelten Tod dazu brachte, seine Frauen von hinten anzuspringen, und die Frauen, es so zu mögen - es schien auch Pökler begegnet zu sein, hin und wieder, auf den tieferen seiner Tauchgänge im Mare Nocturnum. Er fand Genuß, nicht unähnlich dem an der Rasierklinge, die seine Haut und Nervenenden kitzelte, vom Scheitel bis zur Sohle, an rituellen Unterwerfungen unter den Meister dieses nächtlichen Raumes und seiner selbst, die männliche Verkörperung einer Technologie, die sich der Macht nicht um des gesellschaftlichen Fortschritts, sondern um genau dieser Gelegenheiten zur Hingabe willen verschrieb, einer privaten und dunklen Hingabe an die Leere, an einen köstlichen und heulenden Zusammenbruch ... An Etzel, den Hunnenkönig, um genau zu sein, der aus den Steppen nach Westen gezogen kam, um das delikate Gespinst aus Zauberei und Inzest zu zerreißen, welches das Königreich der Burgunden zusammenhielt. Pökler war todmüde an jenem Abend, nachdem er den ganzen Tag lang Kohlenbrocken geklaubt hatte. Er nickte immer wieder ein und erwachte dann vor Bildern, auf die er sich eine halbe Minute lang keinen Reim zu machen vermochte - eine Großaufnahme eines Gesichts? Die Schuppen des Drachen? Eine Schlachtenszene? Oft genug löste sich das Rätsel in Rudolf Klein-Rogge auf, den altöstlichen, thanatomanen Etzel, Kopf geschoren bis auf eine Skalplocke, kettenbehangen, wütend mit grandiosen Gesten und diesen riesigen, eiskalten Augen... Pökler döste wieder ein, seine Träume inspiriert von diesen Ausbrüchen zerstörerischer Schönheit, für deren stumme Münder sie barbarische Gutturale erfanden, während die Burgunden zur Mickrigkeit, zum Grau gewisser Menschenansammlungen in den Kneipen damals rund um die TH gedämpft wurden ... und wachte wieder auf - stundenlang ging das so -, hinein in ein immer fortgeschritteneres Stadium von Gemetzel, Feuer und Zerstörung... Auf dem Heimweg, mit der Straßenbahn und zu Fuß, fing

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