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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Tschitscherin entnervter ans Brett, unternahm heroische Anstrengungen, liebenswürdig zu bleiben, dem Wahnsinnigen ein wenigstens einigermaßen taktisches Spiel abzuschmeicheln, und verlor fast regelmäßig. Aber es gab nur Mrawenko oder den Winter der Semiretschje.
    "Hast du eine Ahnung, was los ist?"
    Mrawenko lachte. "Wer hat die schon? Molotow sagt Wi-schinski nichts. Aber sie
    wissen Einzelheiten über dich. Erinnerst du dich an das Kirgisische Licht? Sicher tust
    du das. Tja, das haben sie rausgekriegt. Ich hab's ihnen nicht gesteckt, aber
    irgendeinen Informanten haben sie wohl."
    "Das ist doch uralter Schnee. Warum kommen sie jetzt damit?"
    "Du bist als eingestuft", sagt Mrawenko.
    Worauf sie einander anblickten, lange. Es war ein Todesurteil. Nützlichkeit hier draußen endet so abrupt wie ein Kommunique. Mrawenko hatte Angst, und nicht nur um Tschitscherin. "Was willst du tun, Mrawenko?"
    "Versuchen, nicht allzu nützlich zu sein. Obwohl - sie sind nicht vollkommen." Beide Männer wußten, daß es ein Trost sein sollte, und es war ein schwacher. "Sie wissen in Wirklichkeit doch gar nicht, was dich nützlich macht. Sie operieren mit der Statistik. Ich glaube, es war nicht vorgesehen, daß du den Krieg überlebst. Und als es dann passiert war, mußten sie dich eben genauer unter die Lupe nehmen." "Vielleicht werde ich auch das hier noch überleben." Und in diesem Augenblick hatte er die Idee, nach Moskau zu fliegen. Aber dann kam die Nachricht, daß die Spur von Weißmanns Batterie in der Heide endete. Und die erneuerte Hoffnung, Enzian zu treffen, hielt ihn von seiner Reise ab - jene verführerische Hoffnung, die ihm mit jedem Tag seine Chance schmälert, jenseits dieses Treffens weiterzumachen. Wovon er ohnehin nie ausgegangen ist. Die eigentliche Frage lautet: werden sie ihn erwischen, bevor er Enzian erwischt hat? Das einzige, was er braucht, ist etwas Zeit... alles ruht auf der Hoffnung, daß sie ebenfalls hinter Enzian, oder dem S-Gerät, her sind, daß sie ihn auf die gleiche Weise benutzen, wie er Slothrop zu benutzen glaubt...
    Der Horizont ist noch wolkenfrei: war's den ganzen Vormittag. Zypressenförmige Wacholderbüsche stehen in der rostigen, verschleierten Ferne, unbewegt wie Grabsteine. Erste purpurne Blüten zeigen sich auf dem Heidekraut. Es ist nicht der geschäftige Friede des Spätsommers, sondern die Ruhe eines Kirchhofs. Unter den prähistorischen germanischen Stämmen war dieses Land genau dies: das Reich der Toten.
    Ein Dutzend Nationalitäten, verkleidet als argentinische Estancieros, drängen sich um die Gulaschkanone. El Nato steht im Gauchostil auf dem Sattel seines Pferdes und blickt hinaus in die deutschen Pampas. Felipe kniet in der Sonne und verrichtet seine mittägliche Andacht, die der lebendigen Wesenheit eines bestimmten Felsens in der Einöde von La Rioja, an der Ostflanke der Anden, gewidmet ist. Nach einer argentinischen Legende aus dem vergangenen Jahrhundert folgte Maria Antonia Correa, ihr neugeborenes Kind im Arm, ihrem Geliebten in dieses öde Land. Hirten fanden sie eine Woche später, tot. Doch der Säugling lebte: er hatte sich von Milch aus ihrem Leichnam ernährt. Die Felsen am Schauplatz des Wunders sind seither das Ziel jährlicher Wallfahrten gewesen. Doch Felipes spezieller Stein verkörpert, neben dem Wunder, auch ein intellektuelles System. Felipe glaubt (wie M. F. Beal und andere) an die Existenz eines mineralen Bewußtseins, das sich von dem der Pflanzen und Tiere im wesentlichen nur durch sein anderes Zeitempfinden unterscheidet. Die Zeitskala der Steine sieht erheblich gedehnter aus. "Wir sprechen von Einzelbildern pro Jahrhundert", Felipe macht, wie alle hier, neuerdings gern Anleihen bei der Filmtechnologie, "ja, pro Jahrtausend!" Kolossal. Aber Felipe hat erkannt, was jenen, die keine Fühlenden Felsjünger sind, meistens verborgen bleibt -daß die Geschichte, die sichtbar auf die Welt gehäuft ist, nur einen Bruchteil darstellt, nur eine äußere Fassade. Daß wir auch auf das Ungesagte achten müssen, auf das Schweigen rings um uns her, auf den Weg jedes nächsten Steines, dem wir begegnen - seine Äonen von Geschichte unter der langen und weiblichen Beharrlichkeit von Wasser und Wind (wer wird zur Stelle sein, ein- oder zweimal pro Jahrhundert, um den Verschluß auszulösen?), bis hier herunter ins Flachland, wo sich eure Wege, der menschliche und der mineralische, am wahrscheinlichsten kreuzen...
    Graciela Imago Portales, das dunkle Haar in der

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