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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Flamme dort drinnen nur im dunklen Orange eines Sonnenuntergangs. Slothrop kann nicht einmal sein eigenes, weißes Gesicht erkennen. Eine Frau an einem Tisch dreht sich nach ihm um. Ihre Augen sagen ihm in einem einzigen Augenblick, was er ist. Die Mundharmonika in seiner Tasche verwandelt sich zurück in ein totes Stück Messing. In Ballast. Ein Jive-Zubehör. Trotzdem nimmt er sie überallhin mit.
    In der Herrentoilette im ersten Stock vom Roseland Ballroom sinkt er über einer Kloschüssel zusammen und kotzt, erbricht Bier, Hamburgers, Röstkartoffeln, Salat nach Art des Hauses mit French Dressing, eine halbe Flasche Moxie, nach dem
    Essen gelutschte Pfefferminzbonbons, eine Rippe Clark-Schokolade, ein Pfund gesalzene Erdnüsse und die Kirsche vom Old-Fashioned eines Radcliffe-Mädchens. Und plötzlich, ohne Warnung, während noch Tränen aus seinen Augen strömen, PLOPP fällt die Mundharmonika, uarrgh!, ins ekle K/o! Sogleich perlen kleine Luftbläschen um ihre verchromten Flanken und über die braunen Holzflächen, die teils noch glanzlackiert, teils abgewetzt sind von der Berührung der Lippen, winzige Silberkörner, die sich loslösen und die Tauchfahrt der Harmonika säumen, hinab in den steinbleichen Muttermund und schwarze Nacht...
    Eines Tages wird ihn die amerikanische Armee mit Hemden ausstatten, deren Taschen er zuknöpfen kann, aber noch herrscht Vorkrieg, noch muß er sich auf die Wäschestärke verlassen, die die Brusttasche seines schneeweißen Arrow-Hemdes so versteift, daß nichts ... Aber nein, du Trottel, nein, sie ist gefallen, die Mundharmonika, erinnere dich! Soeben schlagen ihre tiefsten Zungen einen kurzen Ton an, während sie am Porzellan entlangstreift (irgendwo prasselt Regen gegen ein Fenster und eine blecherne Lüftungsklappe draußen: kalter Bostoner Regen), dann verstummt auch dieser Leierklang im Wasser, auf dem noch letzte galligbraune Schlieren seiner Kotze treiben. Keine Möglichkeit, sie zurückzurufen. Er muß die Mundharmonika aufgeben, seine silberhelle Hoffnung auf Gesang, oder er muß ihr folgen.
    Ihr folgen? Red, der schwarze Schuhputzboy, wartet gespannt neben seinem staubigen Lederstuhl. Überall im öden Roxbury warten die Neger. Ihr folgen? "Cherokee" heult in diesem Augenblick aus dem Tanzsaal herauf, untermalt von Becken, Schlagbaß, dem Schleifen von tausend Sohlen auf dem Parkett, wo wandernde rosa Spotlights blasse Harvardboys und ihre Flirts in eine Horde aufgepeppter Rothäute verwandeln. Nur noch eine Lüge mehr ist dieser Song, der da gespielt wird, über die Verbrechen der Weißen. Aber im Cherokee-Kanal haben sich mehr Musiker müde gestrampelt, als auch von einem Ende zum anderen durchgekommen sind. All diese unendlich langen Noten ... was spielt sich in ihnen ab, in dieser langen Zeit? Eine indianische Geisterverschwörung? Unten in New York, gib Gas, vielleicht kommst du zum letzten Set zurecht -auf der 7. Avenue, zwischen 139. und 140. Straße, findet "Yardbird" Parker heute nacht den Dreh, mit den hohen Noten eben dieser Akkorde die Melodie so aufzubrechen daß du großer Gott was soll denn das darstellen ein irrsinniges Maschinengewehr oder was Mann der spinnt wohl Zweiunddreißigstel Demi-SemiAchtel sag's mal (demisemiachtel) ganz schnell mit Zwergenstimmchen wenn du auf so was stehst wie's hier zu hören ist in
    Dan Wall's Chili House und über die Straße und - Scheiße, auf allen möglichen Straßen schon (denn '39 hat er seine Reise längst begonnen: mittendrin in seinen positivsten Soli honkt schon lässig und amüsiert dumdidum kein andrer als der alte Mister Fucking Death persönlich) und weiter über den Äther, auf Society-Sausen und eines Tages selbst aus den versteckten Lautsprechern in großstädtischen Fahrstühlen und Supermärkten, der Gesang seines Vogels, der das endlose Schlummerlied der Menschheit übertönt und das benommene Geseire der sabbernden Streicher aus ihren Hallkammern fegt ... Selbst hier, im Norden, auf der verregneten Massachusetts-Avenue, beginnt sich diese Prophezeiung heute nacht in "Cherokee" zu verwirklichen, und die Saxophone unten im Saal geraten immer mehr in eine echt schräge Sache rein...
    Wenn Slothrop tatsächlich dieser Mundharmonka in die Toilette folgen will, so muß er es mit dem Kopf voran tun, kein schöner Gedanke, weil dann oben sein Arsch schutzlos in die Luft ragt, was bei all diesen Negern hier in der Gegend genau das ist, was er vermeiden möchte, sein Gesicht da unten in unbekannter,

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