Die Enden der Welt
verlor, nicht auch noch Zahnschmerzen bekommen dürfe. Doch haben wir Weißwein, wir sind beisammen und geschützt, und wir sind uns gut. Wenn wir auf das Klo hinter den Beeten da draußen müssen, tragen wir kleine, um den Kopf geschnallte Grubenleuchten. Marías Kinderbadewanne, die gerade mal eine Lache kalten Wassers fasst, entspricht ihrer winzigen Bettstatt, die aus dem Innern der Matratzen und Decken nach nasser Wolle riecht.
Wir essen das hier Gewachsene: Rote Beete, Kartoffeln, Rosenkohl, die Reste eines selbstgeschlachteten Lamms. Manuel fleddert den Schlegel mit den Zähnen ab:
»Mein Großvater hat mich gelehrt: Frauen und Lämmer isst man mit den Händen.«
Lili erzählt María die Geschichte von der Prinzessin auf der Erbse.
»Aber«, will die Witwe wissen, »warum brauchte sie so viele Decken, war es so kalt?«
»Nein, sie mussten prüfen, ob es sich um eine echte Prinzessin handelte.«
María versteht nicht.
»Und sie hat die Erbse gespürt?«
»Ja.«
»Dann war sie also die echte?«
»Ja.«
María ist zufrieden, wir alle sind es. Noch auf einem wüsten, sturmumtosten Einödhügel in Patagonien ist eine europäische Geschichte verständlich, die die Dekadenz der Reichen verspottet.
Marías Leben brennt auf fast nichts, und nichts hilft ihr, sich selbst zu entkommen, kein Fernsehen, keine Gesellschaft und kein Alkohol. Wären wir nicht da heute, sie säße in der Mitte ihrer Stube im Dunkeln und würde dem Wind zuhören, dem Wind in seiner Wechselrede, dem Ticken der Uhr, und sie würde die Rauchschwaden betrachten über dem Herd und über dem Mate-Tee.
»Haben Sie Freunde?«
»Jeder will einen guten Freund haben, aber keiner will einer sein«, erwidert sie und lässt die Antwort fliegen.
An der Wand entdecke ich ein altes Kalenderblatt mit einer Abbildung von Berchtesgaden. Aus der Ferne blicke ich auf die kleinformatige Landschaft Europas. Sie lässt uns, unsere Landschaften, unsere Bergpanoramen niedlich erscheinen. Dagegen werden Individuen in Patagonien zerschmettert, ihre Hüttchen geknickt, in den Schutz der Bergrücken genötigt, zur Unscheinbarkeit verdammt. Auch die Straßen folgen lieber den Flüssen, also bereitwillig eingeräumten Bahnen, die die Natur dem Menschen lässt, damit er sich am Rand der Unscheinbarkeit herumdrücke.
Die Verhältnisse verkehren sich: Man lernt, die Natur nicht mehr vom Menschen aus zu denken. Wer hier bleibt, lebt geduldet, geschützt von einem Winkel, und blickt bei Kerzenlicht vor sich oder ins Feuer. Geradezu monumental ist diese Kraft der Menschen, bei sich zu bleiben, ein Innenleben zu kultivieren, das sie nicht im Stich lässt und auch nicht bedroht.
»Wo willst du hin?«, fragt María.
»Nach Chaitén«, sage ich.
»Das dürfte schwer werden. Chaitén ist gesperrt.«
Lili blickt nur wortlos vor sich hin.
»Aber es sollen noch acht Personen in der Stadt leben.«
»Aufsässige. Nachdem der Vulkan am 2 . Mai letzten Jahres ausgebrochen ist, hat die Polizei die Stadt evakuiert. Ihr werdet nicht hineingelassen. Außerdem ist es gefährlich. Der Berg kann jederzeit wieder explodieren.«
Es ist wahr, nach dem überraschenden Ausbruch des Vulkans folgten sechzig kleinere Beben. Ein Ascheregen war über der Gegend niedergegangen und hatte das Wasser kontaminiert. Als dann im Jahr darauf der Lavadom im Innern des Kraters ebenfalls zusammenbrach und sich ein neuer Glutstrom ins Meer ergoss, evakuierte man auch die letzten Bürger und warnte sie, nicht zurückzukehren.
Wir sprechen vom Töten. Lili macht das Japsen der Fische auf der Planke nach, dann die schreienden, herzzerreißenden Zicklein, das Röhren der Kühe, bei denen es zwanzig Stunden dauern kann, bis sie aufhören, in ihrer Trauer um ein totes Kalb zu brüllen.
»Es ist eine Qual«, sagt Manuel, »trotzdem muss es gemacht werden.«
Die Trauer in den Augen der Witwe ist der Grausamkeit gewichen. Es ist eine Härte, die sie vom eigenen Leben mitleidlos auf das der Tiere überträgt.
Sie erklärt Lili: Beim Kastrieren muss man dem Tier den Schwanz anbinden, damit die Wunde nicht verdreckt. Kinder halten den Tieren beim Schlachten sogar manchmal die Ohren zu. Das Kastrieren aber wird meist mit den Zähnen gemacht, es ist eine Art Abschaben, das man im Freien machen muss. Im Stall würden die Tiere ja bloß alles kurz und klein schlagen.
Auch wenn sie sonst Mitleid mit den Tieren haben, schneiden die Kinder ihnen gern den Schwanz ab. Wenn man ihn röstet, fallen die Borsten aus,
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