Die Enden der Welt
bezeichnen. Häufig erkennt man den Lebensraum des Orang-Utans an den Spuren brachialer Gewalt, die er hinterlässt.
Orang-Utans sind kaum geselliger, als es ein Säugetier sein muss, heißt es. Sie sind ganz sicher einzelgängerischer als Schimpansen und Gorillas, auch melancholischer, denke ich. Vor allem die erwachsenen Männchen sind solche Eigenbrötler, dass Begegnungen zwischen ihnen nur etwa einmal pro Jahr beobachtet werden. Durch ihre Langrufe, kilometerweit hörbare Signale, machen sie die geschlechtsreifen Weibchen auf sich aufmerksam und grenzen so das eigene Gebiet gegenüber anderen Männchen ab. Da sich die Weibchen weitgehend still verhalten, ist es also offenbar ihnen überlassen, sich den Männchen zuzugesellen. Diese wiederum akzeptieren nur Weibchen, von deren Fruchtbarkeit sie sich zuvor überzeugt haben.
Ich streife durch Tangkiling, eine unordentliche, improvisierte Siedlung, und bin auf der anderen Seite gleich wieder draußen. Die Frauen waschen, die Kinder baden im Fluss. Jenseits der Siedlung zeugen niedergebrochenes Gehölz, verwüstete Baumkronen und Schonungen von der Zerstörungswut, andere sagen vom Konstruktionstalent, vom Bauwillen der Orang-Utans. Ihr Land, wenn es denn eines gibt, beginnt hier, jenseits der Straße von Palangkaraya, die endet, als versickere sie in einer Spur aus dunklem Dschungelboden.
Vor kurzem, so erzählen mir die Frauen, die herbeigeströmt sind, war schon einmal ein Fremder hier, auch er aus Europa. Dieser Schweizer Geistliche war offenbar ausgezogen, Asien im Allgemeinen und Borneo im Besonderen dem richtigen Glauben zu öffnen, wenn nicht zu unterwerfen. Nachdem er zu Hause die chinesische Sprache gut genug gelernt hatte, um – wie er glaubte – radebrechen zu können, bestieg er irgendwo im weiten China eine improvisierte Kanzel und psalmodierte in einem Idiom, in dem das Schweizerdeutsche mit dem Chinesischen eine Mesalliance eingegangen war. Jedenfalls predigte er etwa eineinhalb Stunden und schritt nach dem Segen erhobenen Hauptes von dannen, bis ein paar Halbwüchsige hinter ihm hergelaufen kamen und riefen: »Herr Jesus, du hast deinen Hut vergessen!« Sie hatten gedacht, er erzähle aus dem eigenen Leben!
Derart enttäuscht, war er ausgezogen, um in seiner schwarzen Soutane nun die Buschmenschen auf Borneo zu evangelisieren. Unglücklicherweise aber verirrte er sich im Dschungel, erreichte nach Tagen, ausgezehrt und bärtig, den Fluss und winkte hilferufend den vorbeitreibenden Booten. Die Einheimischen aber hielten ihn, heruntergekommen wie er war, von weißer Haut und in der schwarzen Soutane, für ein Gespenst, wagten nicht, sich ihm zu nähern, und der liebe Gott ließ ihn bei einem Gesträuch am Ufer verhungern.
»Wir haben ihn dort hinten in der Hütte aufgebahrt«, sagt ein Jüngling. »Doch was soll aus ihm werden? Sein Bruder will kommen, ihn heimzuholen. Wollen Sie ihm nicht mal eben die letzte Ehre erweisen?«
Als ich an die Bahre trete, auf der der Unglückliche in seiner Soutane ruht, vollbärtig, hohlwangig und mit riesigen Augenhöhlen, weiß ich plötzlich, wer dieser Bruder ist, der da erwartet wird und dem ich lieber nicht noch einmal begegne. »Yes, yes, yes«, ich erinnere mich genau, »interessant, interessant«. Also verneige ich mich kurz vor der leiblichen Hülle, drehe mich um und sorge dafür, dass ich schnellstmöglich Land zwischen mich und den Toten bringe, diesen Wiedergänger.
Die Straße nach Palangkaraya lag wieder vor mir.
Kamtschatka
Asche und Magma
Man wacht auf und überfliegt ein Gehirn, rot und zerklüftet, bizarr geformt, mit mäandernden Nervenbahnen, man überfliegt es in 31 000 Fuß Höhe, und es sieht aus wie ein Organismus. Man bewegt sich auf einen Punkt zu, achttausend Kilometer von zu Hause, über eine Formation aus pathetisch getürmten Felsmassiven, Abgründen, nackten tektonischen Schichtungen. Malerisch. Fremd. Man sollte Seemannslieder singen, Heimweh haben, Dschunken passieren lassen.
Doch auf dem Monitor des Bordfernsehens bewegt sich das Symbol des Flugzeugs auf seiner gestrichelten Linie nur ganz langsam und ruckhaft durch elf Zeitzonen. Bald wird die Regierung sie auf acht reduzieren. Auf einem anderen Kanal erscheinen jetzt polnische Sumo-Ringerinnen, dann eine Rallye in Uganda, ein indonesischer Badmintonspieler, zuletzt eine Weihnachtsmänner-Parade. Die Welt ist reich und fern. Dann flammt die Kabinenbeleuchtung auf, und auf den Tabletts wird Fisch vorbeigetragen in
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