Die Endlichkeit des Lichts
einen großen Gummibaum in seiner Praxis. Sie lächelte
gefaßt nach allen Seiten, denn man munkelte, daß Kavo die Mitarbeiter mit
Videokameras überwachen ließ. Keiner konnte es ihm nachweisen, aber er sah aus
wie jemand, der nicht davor zurückschreckte, einen Ficus benjamini mit kleinen
Augen auszurüsten und für seine Zwecke zu mißbrauchen.
Haben Sie jemals das Gefühl gehabt, in
einen Raum zu kommen, und alle drehen sich um? Hören die Menschen auf zu
sprechen, wenn Sie sich nähern? Schnappen Sie Wortfetzen auf, in denen es
eindeutig um Sie zu gehen scheint? Schuldig, in allen drei Punkten. Paranoia,
narzißtische Psychose, die Umklammerung weißer Gurte, dann Spritzen. Als sich
die Muskeln in Vernas Schultergürtel verkrampften, atmete sie stoßweise aus,
wie Karla es ihr vorgeführt hatte. Anspannen, entspannen — wie bei
isometrischen Übungen, keiner sieht es, auch wenn Sie es befürchten. Ihre
Therapeutin verfiel in lockende Zuckungen. Verna aber hatte laut aufgelacht.
Karla stockte, vereiste und musterte sie mit winterlichen Blicken. Okay, sagten
ihre Augen, ich habe begriffen, daß du dein Leben lang rigide sein willst.
Erst nach geheuchelten Entschuldigungen
ließ sie sich dazu herab, Verna erneut in die progressive Muskelentspannung
einzuweihen. Los, los, aus, aus, pantha rei, alles fließt, einatmen, ausatmen!
Wo sitzt das Gefühl? Wo will es hin? An was erinnert es Sie? Die Stunde war in
dem Maße absurd, wie Karla sich zum Affen machte. Verna vertrieb sich die Zeit
mit der Vorstellung, wie sie Manasse davon erzählen würde: Stell dir vor, es
war wie Schüttellähmung! Und das bei einer professionellen Frau kurz vorm
Klimakterium. Frauen vor dem Klimakterium sind nicht professionell, würde er
antworten. Na gut, würde sie sagen, dann nicht! Unterhalt dich meinetwegen
weiter mit deinen Flaschen.
Vor ihren Augen verwandelte Karla sich
in ein glibberiges, schlackerndes Ding in einem kostspieligen, balsamisch
duftenden Kostüm. Ununterbrochen hatte es wirre Dinge gerufen: Streßabbau,
Serotonin, Entladung! Die schnappende Zunge erinnerte Verna an eine Boa
Constrictor, und als Angst ihr in die Fingerspitzen schoß wie eine Injektion,
sackte sie in sich zusammen.
Obwohl Kavo ein paar Wochen zuvor
angeordnet hatte, Duftlampen zu installieren, roch das Foyer mufflig. Nun roch
es eben mufflig nach Ylang-Ylang, Blume der Blumen, die sie in Asien über
Brautbetten streuten, wie Manasse anzüglich bemerkte. Von dem süßlichen,
leichenhaften Geruch wurde Verna schwindlig, obwohl doch Unona odorantissimum,
das Flaschenbaumgewächs, durch Enttäuschung entstandenen Zorn besänftigen
sollte.
Aus den Glasbausteinen der Treppenstufen
blinzelten Luftblasen ihr zu. Hinter dem Empfangspult keine Spur von Annett,
die entweder ihr Glückskäferkostüm reparierte oder anderen Tätigkeiten
nachging, für die sie nicht bezahlt wurde. Wie alle Mitarbeiter überschlug sie
sich für Tele-Fun, und selbst Manasse, der seinerzeit noch für einen
Betriebsrat kämpfte, hatte kapituliert. Denn auf so einen Rambo hatte Kavo, der
Erfinder der Doppelbeschäftigung, gerade gewartet. Corporate Identity
schaffen, nannte er seinen Ansatz, universal sein. Wir sind — rief er.
Tele-Fun! schrien alle. Aber ich, grölte Manasse einst im Four-Roses-Dunst,
werde die Doppelbeschäftigung wie einen Bleistiftstrich vom Papier tilgen! Von
seinen abstrusen Formulierungen erhoffte er sich, eines Tages selbst für die
Kamera entdeckt zu werden. Schließlich besaß er alles, was man dazu benötigte:
ein Gesicht wie eine Fußleiste und eine Figur wie der Gummibaum im Foyer.
Staubige Extremitäten und eine Flasche Gin in jeder Jackentasche. In Spiritu
Sanctu, amen. Manasse trank sich zu Tode. Aus Hoffnung? Enttäuschung? Wegen
eines Schmerzes, der deutlicher und älter war? In der jüdischen Gematria hatten Wein und Geheimnis denselben Zahlenwert.
Im letzten Jahr vor der Hungersnot
gebar Asenat dem Josef zwei Söhne, las ihre Mutter Alice und Verna vor. Gott
hat mich alle Not und sogar die Heimat vergessen lassen, sagte Josef und nannte
den Erstgeborenen Manasse. Manasse, alberte Alice, Kaffeetasse. Mit seiner
Betriebsratsidee marschierte Manasse zu Kavo, aber nach tagelangen Schreiereien
hißte er den Antrag auf ein Sabbatical. Sabbat, der Schluß der siebentägigen
Woche, referierte Verna, nur den Sabbatweg gehen, keine Ähren abreißen, nicht
heilen — unbebaut bleiben und brachliegen.
Dann komme ich wenigstens mal zum
Friseur, sagte
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