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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk van Versendaal
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staubigen Proviantkisten und längst vergessenen Angelruten, Mäuseschiss, Spinnweben. Im Bootshaus der Lövgrens hatte der Mann sie abgelegt wie eine altersrissige Boje. Immerhin hat er die Freundlichkeit besessen, mich auf eine Persenning zu betten, dachte sie. Auf einen Knebel hatte er auch verzichtet. Ein Gentleman. Alte Schule. Aber hier draußen hört meine Schreie ohnehin kein Mensch.
    Seit wie vielen Stunden liege ich hier? Das Stück grauen Himmels vor dem verstaubten Fenster lässt keine Rückschlüsse zu. Hier drinnen herrscht ewiger Schatten. Trotzdem wachsen in einer Ecke der Hütte ein paar kümmerliche Brennnesseln. Ein ekliger und bitterer Geschmack brennt mir auf der Zunge.
    Sie hörte ein kurzes, trockenes Bellen. War es ein Hund? Ein Hirsch, der sein Revier markierte?
    Warum traf es nicht zur Abwechslung mal Myrbäck? Oder das Fräulein Linné? Ich bin unschuldig. Ich habe es nicht verdient, hier auf dem Rücken zu liegen. Der Mann aus dem Bus hatte sie mit einem Elektroschocker betäubt. Ihre rechte Körperseite schmerzte noch immer. Und wo sie nicht schmerzte, da war sie betäubt. Wie auch ihre Arme. Ihre Hände. Mit dem ganzen Gewicht lag sie auf ihren gefesselten Händen, aus denen jedes Gefühl gewichen war.
    Sie ruckelte sich auf die Seite und sah an sich hinunter.
    An den Füßen hatte der Mann sie mit einer blauen Bootsleine gefesselt. Er hatte sie aus den Kisten mit dem Tauwerk gefischt. Dort, wo ich beim Frühjahrsputz die Metallkiste entdeckt und dann oben beim Hause versteckt habe. Die Kiste, wegen der ich hier jetzt liege.
    Das Bellen kam näher. Es war ein Hund.
    – Hallo! Sie rief. Ihre Worte kamen in kleinen Brocken, ein Krächzen. Ihre Zunge klebte am Gaumen. Es war Stunden her, dass sie getrunken hatte. Der Frühstückskaffee. Sie schrie erneut: Hallo! Dann sogar dies: Hilfe! Sofort fielen ihr die Ermahnungen ein, die sie als Kind zu hören bekommen hatte. Nach Hilfe ruft man nicht im Scherz. Nie.
    – Es ist kein Scherz!, schrie sie, so laut sie konnte.
    Eine Frauenstimme antwortete. Hoch, hell. Es war die Nachbarin. Sie rief nach ihrem Terrier. Largo! Largo! Mich hat sie nicht gehört, die schwerhörige Alte.
    Largo stand vor der Tür und knurrte.
    – Hol Frauchen, rief sie.
    Der Hund antwortete mit einem aufgeregten Schnuppern. Sie hörte, wie er an der Seite des Hauses entlanglief, über die Steine sprang und einmal kurz bellte. Dann war nur das Plätschern mickriger Ostseewellen zu hören.
    Wer wird sie vermissen? Ihr Bruder und Myrbäck ahnen nicht einmal, dass sie auf der Insel ist. Sassie? Vergiss es. Und ihre Tochter ist die Woche über beim Vater, Malin wird fünfzehn und ist mit sich selbst beschäftigt. Würde sie ein Wochenende in einem Bootshaus überleben? Ohne Wasser? Im Seidenkleidchen?
    Morgen war sie noch krankgeschrieben. Am Montag erst würde man die Schulkrankenschwester schmerzlich vermissen. Die Kinder ihres Sexualkundekurses. Zwölfjährige, denen sie einmal im Monat von den Tücken des Sexuallebens erzählte. Von der Syphilis, von den Matrosen des Kolumbus hatte sie ihnen schon erzählt, am Montag waren die Chlamydien dran, die Trichomaden, die Filzläuse mit ihren Halteklauen und den Nissen.
    Mit einem Rucken stemmte sie den Oberkörper hoch. Wenn ich mich nicht wehre, werde ich hier verrecken. Die fette Spinne, die neben meinem Kopf in der verrosteten Grillkugel haust, wird sich ein neues Heim suchen, ein Plätzchen, um ihre Eier abzulegen in meinen Augenhöhlen, meinen Ohren oder meinem unziemlich aufgerissenen Leichenmund. Pfui Teufel, rief sie der Spinne entgegen.
    Sie hatte mit Hanna Holmquist von der Gesundheitsverwaltung in Stockholm telefoniert, bevor der Mann hinter ihrem Rücken aufgetaucht war. Seit die Kinder ihren Chlamydien-Test umsonst im Internet bestellen und zuhause machen konnten, hatte sie stolz erzählt, machten sogar die älteren Jungen mit bei den Tests.
    Einen halben Meter hatte sie geschafft. Über alte Seile war sie hinweggerutscht in ihrem dünnen Tupfenkleidchen, den Hintern voran, das Köpfchen in die Höh’, und die Knöchel ihrer Hände rissen auf, mit jedem Zentimeter platzten ein paar Fasern ihrer dünnen Haut.
    Stück um Stück hatte sie sich an einen verbeulten Schneeschieber herangeschoben, sich dabei unbekümmert über das Skelett eines kleinen Vogels hinweggewälzt, das knisternd unter ihr zerbrach. Sie legte ihr Gewicht gegen den Schaft des Schneeschiebers und schob ihre Fesseln über sein scharfes Blech, hin und

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