Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
dass die Nachbarschaftshilfe ein Auge auf alle hielt, die hier nicht hingehörten. Wir schützen einander.
Myrbäck fror. In seinen Wollhandschuhen wurden die Finger klamm. Der Stoff seiner Jeans war zu dünn für dieses Wetter. Er stellte sich vor, wie es wäre, in den Häusern zu leben, an denen sie vorbeigingen. Zwischen duftenden Bettlaken, auf frischen Kopfkissen zu liegen. Fußbodenheizung, sanfte Küchenbeleuchtung. Ihm fielen Städtereisen übers Wochenende ein, tolle Frauen, die ihre Bademäntel fallen ließen, wenn sie aus der Küche zurückkehrten, wo sie leckere Nutellabrote geschmiert hatten, und dann ab mit den Kindern zur Schule.
Was ist ein gelungenes Leben?, fragte sich Myrbäck. Er und Jan waren das, was man kleine Diebe nannte. Saßen die großen Diebe hier, in Danderyd, Stockholm? Er hatte gelernt, dass die Welt so einfach nicht war. Aber trotzdem. Die Reichen verdienten es bestohlen und beschissen zu werden. Aber hallo!
Minutenlang hatten sie kein Wort gewechselt, keine Bli cke getauscht, sich beinah damit abgefunden, unverrichte ter Dinge in ihren Vorort abzuziehen, als Holzapfel mit einem Mal stehen blieb. Fast wäre Myrbäck in seinen Rücken gerannt.
Durch eine laublose Ligusterhecke sahen sie, wie ein großer und breiter schwarzer Wagen aus einer Garage manövriert und mit laufendem Motor auf einer großzügigen Kiesauffahrt geparkt wurde. Der Fahrer, vermummt in Mantel und Mütze, stieg aus, warf die Tür hinter sich zu, schloss das Tor zur Garage und verschwand über den Treppenaufgang seines Hauses. Myrbäck spürte, wie all die Lethargie, die ihn seit Tagen lähmte, von ihm abfiel.
Sie gingen an das Ende der Hecke, bogen in die Auffahrt des Hauses und traten vor den Wagen.
– Nagelneu, meinte Holzapfel, ein fetter Dodge. Er streifte seine Fäustlinge von den Händen.
Ja, ein echtes Fundstück, ein saumäßiger Glücksfall, der einen direkt misstrauisch machen sollte, doch einen Weg zurück gab es nun nicht mehr. Holzapfel saß bereits am Steuer. Myrbäck sah, dass die Tür der Villa sich öffnete und der Mann auf die Vortreppe trat. Er hatte seine Wollmütze abgenommen, trug jetzt Anzug und Mantel, die Aktentasche in Händen. Er stand reglos und starrte Myrbäck an.
Es war das Aufdröhnen des Motors und der gleichzeitige Hüpfer, den Myrbäck in Richtung Beifahrertür machte, die den Mann aus seiner Starre rissen. Er sprang die Treppen des Eingangs herab, rutschte jedoch, kaum hatte er den Rasen des Vorgartens betreten, sogleich aus.
Ledersohlen auf Schneematsch, dachte Myrbäck erleichtert, da ist kein Halt. Er warf sich auf den Beifahrersitz. Holzapfel bearbeitete hektisch den Schaltknüppel der Gangschaltung. Später rekonstruierten sie, dass Jans regennasse Brille in der Heizungsluft des Wagens beschlug, er also nicht ablesen konnte, wie die Gänge zu schalten waren; dass er sich mit einer Sechsgangschaltung plus Rückwärtsgang ohnehin nicht auskannte; dass, wer in ihrem Beruf zukünftig erfolgreich sein wollte, sich durch die Mühen einer permanenten beruflichen Fortbildung würde quälen müssen.
Holzapfels Unkenntnis kostete sie Sekunden. Sie gab dem Mann die Gelegenheit, sich Meter um Meter über den glitschigen Boden voranzukämpfen und sich auf die Motorhaube seines Wagens zu werfen. Der Kollisionsmelder reagierte mit einem schrillen Piepsen.
Hoffentlich hat der Kerl keine Kinder, die ihn jetzt von ihren Fenstern aus beobachten, dachte Myrbäck. Der Mann tat ihm leid. Es war immer bedrückend, seinen Opfern Auge in Auge gegenüberzustehen. Ein Mann mit kurzrasiertem Haar, Mitte vierzig, braun gebrannt, zu erholt für die frühe Jahreszeit. Mit den Fingerspitzen seiner einen Hand krallte er sich an die Leiste der Motorhaube, mit der anderen klammerte er sich an seine Aktentasche. Verzweifelt trat Holzapfel auf das Gaspedal. Der Motor heulte auf. Endlich rutschte die Schaltung in den Rückwärtsgang. Der Wagen bewegte sich keinen Zentimeter.
– Wo ist die Scheißhandbremse?, brüllte Holzapfel.
So langsam kommt hier Panik auf, dachte Myrbäck. Er blickte in das Gesicht des Mannes, der schmerzverzerrt auf der Kühlerhaube lag und sich der Attacken der Scheibenwischer erwehrte. Der Regensensor des Wagens hatte sie zu Leben erweckt.
Mit einem Ruck stieß der Wagen erneut zurück. Holzapfel hatte die Handbremse gelöst und dabei Gas gegeben. Sie schleuderten nach hinten und drehten einen engen Halbkreis. Der Mann auf der Motorhaube schleuderte mit. Kies spritzte
Weitere Kostenlose Bücher