Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
es vorerst reichte. Es war Zeit fürs Mittagessen, und außerdem wollte sie einen Blick auf ihr Handy werfen. Vielleicht hatte Gösta sich gemeldet. Sie drückte die Daumen, dass er etwas von Schrott-Olle gehört hatte. Hoffentlich hatten sie endlich einmal Glück.
Eine Fliege summte gegen das Fenster. Immer wieder warf sie sich in einem hoffnungslosen Kampf an die Scheibe. Wahrscheinlich konnte sie es nicht glauben. Obwohl es kein sichtbares Hindernis gab, war ihr etwas im Weg. Mårten wusste genau, wie sie sich fühlte. Er beobachtete sie eine Weile, streckte langsam die Hand aus, formte mit Daumen und Zeigefinger eine Pinzette und fing sie. Fasziniert betrachtete er sie, während er die Finger zusammendrückte. Als sie ganz platt war, wischte er die Hand am Fensterrahmen ab.
Ohne das Summen war es vollkommen still im Raum. Er saß auf Ebbas Bürostuhl und hatte das Werkzeug vor sich, mit dem Ebba den Schmuck herstellte. Auf dem Tisch lag ein halbfertiger Engel. Mårten fragte sich, welche Trauer dieser Engel lindern sollte. Allerdings musste die Figur nicht unbedingt dafür gedacht sein. Nicht jede Halskette wurde zur Erinnerung an einen Toten bestellt, manche Leute kauften den Schmuck einfach, weil sie ihn schön fanden. Dieses Schmuckstück schien allerdings für jemanden bestimmt zu sein, der trauerte. Seit Vincents Tod war Mårten in der Lage, die Trauer anderer Menschen selbst dann zu spüren, wenn sie nicht anwesend waren. Er nahm den halbfertigen Engel in die Hand und wusste, dass er für jemanden gedacht war, der die gleiche Leere, die gleiche Sinnlosigkeit verspürte wie Ebba und er.
Er umklammerte das Schmuckstück noch fester. Ebba begriff nicht, dass sie gemeinsam einen Teil der Leere ausfüllen konnten. Dazu musste sie ihn nur wieder an sich heranlassen. Und ihre Schuld eingestehen. Lange Zeit hatten seine eigenen Schuldgefühle ihn verblendet, aber nun wurde ihm immer klarer, dass es Ebbas Schuld war. Sobald sie das zugab, würde er ihr verzeihen und ihr noch eine Chance geben, aber sie sagte nichts, sondern sah ihn nur vorwurfsvoll an und suchte in seinen Augen nach der Schuld.
Ebba stieß ihn zurück, und er konnte das nicht verstehen. Nach allem, was passiert war, hätte sie sich bei ihm anlehnen sollen. Früher hatte sie alle Entscheidungen getroffen. Wo sie wohnten, wohin sie verreisten, wann sie Kinder bekamen. Sogar an jenem Morgen hatte sie entschieden, was zu tun war. Die Menschen ließen sich immer von Ebbas blauen Augen und ihrer zarten Figur täuschen. Sie hielten sie für schüchtern und nachgiebig, doch das entsprach nicht der Wahrheit. An jenem Morgen hatte sie bestimmt, aber von nun an würde er das tun.
Er stand auf und warf den Engel auf den Tisch. Rot und klebrig landete er in dem Durcheinander. Verwundert betrachtete Mårten seine Handfläche, die voller kleiner Schnittwunden war. Zögernd wischte er sich die Hand am Hosenbein ab. Ebba musste jetzt nach Hause kommen. Er hatte ihr einiges zu erklären.
Hektisch wischte Liv die Gartenmöbel ab. Wenn sie sauber bleiben sollten, musste man das täglich machen. Sie schrubbte weiter, bis der Kunststoff glänzte. In der starken Sonne liefen ihr Schweißperlen über den Rücken. Nach all den Stunden, die sie am Bootshaus verbracht hatten, war ihre Haut goldbraun geworden, aber unter den Augen hatte sie dunkle Ringe.
»Ich finde, du solltest nicht hingehen«, sagte sie. »Was sollst du jetzt bei einem Wiedersehen? Du weißt doch, wie heikel die Lage für die Partei ist. Wir müssen uns bedeckt halten, bis …« Sie verstummte abrupt.
»Ich weiß das alles, aber über manche Dinge hat man keine Kontrolle.« John schob sich die Lesebrille auf den Kopf.
Er saß am Tisch und ackerte die Zeitungen durch. Jeden Tag las er die überregionalen und einige ausgewählte lokale Zeitungen. Bis jetzt war es ihm nie gelungen, den Zeitungsstapel ohne Abscheu vor der auf diesen Seiten geballten Einfalt abzuarbeiten. Vor all diesen liberalen Journalisten, Kommentatoren und Besserwissern, die zu verstehen glaubten, wie die Welt funktionierte. Sie alle lockten das schwedische Volk langsam, aber sicher ins Verderben. Er war verpflichtet, den Menschen die Augen zu öffnen. Der Preis war hoch, aber Verluste brachte jeder Krieg mit sich. Und das hier war Krieg.
»Wird dieser Jude auch da sein?« Nachdem sie beschlossen hatte, dass die Stühle nun sauber genug waren, rieb Liv den Tisch ab.
John nickte. »Vermutlich kommt Josef.«
»Stell dir vor,
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