Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
das Foto von der Engelmacherin in die Hand. Was für ein schöner Name für etwas so Grauenhaftes. Sie hielt sich das Bild ganz dicht vor die Augen, um zu sehen, ob Helgas Blick ihre bösen Taten verriet. Sie wusste nicht, ob das Foto aus der Zeit vor oder nach den Kindsmorden stammte, aber das Kind auf dem Foto war so klein, dass es sich um das Jahr 1902 handeln musste. Das Kind war vermutlich Dagmar. Sie trug ein helles Volantkleidchen und ahnte noch nichts von dem Schicksal, das sie erwartete. Wo war sie abgeblieben? War sie wirklich ins Wasser gegangen, wie viele glaubten? War ihr Verschwinden der logische Abschluss eines Lebens, das schon in Trümmern lag, als die Verbrechen ihrer Eltern aufgedeckt wurden? Hatte Helga Reue empfunden oder begriffen, welche Folgen es für die Tochter hätte, wenn die Taten der Mutter ans Licht kamen? Oder hatte sie geglaubt, dass niemand die unerwünschten Kinder vermissen würde? In Ebbas Kopf nahmen die Fragen zu, aber sie wusste, dass sie nie Antworten darauf erhalten würde. Trotzdem fühlte sie sich diesen Frauen sehr verbunden.
Sie studierte das Bild von Dagmar. Ihr Gesicht war von einem harten Leben gezeichnet, aber man konnte erkennen, dass sie eine schöne Frau gewesen war. Wie war es Ebbas Großmutter Laura ergangen, als Dagmar von der Polizei aufgegriffen oder in die Klinik eingeliefert wurde? Soweit Ebba wusste, hatte Laura keine weiteren Verwandten. Kümmerten sich Freunde um sie, oder wurde sie in einem Kinderheim oder einer Pflegefamilie untergebracht?
Plötzlich erinnerte sich Ebba, dass sie insgeheim öfter über ihre Herkunft nachgedacht hatte, als sie Vincent erwartete. Es war schließlich auch seine Familiengeschichte. Merkwürdigerweise hatte sie nach seiner Geburt nicht mehr darüber nachgedacht. Zum einen hatte sie überhaupt keine Zeit mehr gehabt, und zum anderen hatte er mit seinem Duft, dem Flaum in seinem Nacken und den Grübchen an den speckigen Fingergelenken ihr ganzes Dasein ausgefüllt. Alles andere war vollkommen unwichtig gewesen. Sogar sie selbst. Sie und Mårten waren nur noch Statisten im Film über Vincent gewesen. Was hieß nur? Sie hatte ihre neue Rolle geliebt, aber die Leere, die er hinterlassen hatte, war umso größer. Nun war sie eine Mutter ohne Kind, eine bedeutungslose Komparsin in einem Film ohne Hauptfigur. Die Bilder, die vor ihr auf dem Fußboden lagen, stellten sie wieder in einen Zusammenhang.
Unten in der Küche hörte sie Erica herumwirtschaften und die Kinder krakeelen. Sie dagegen saß hier oben und war von ihren Verwandten umgeben. Zwar waren sie alle tot, aber zu wissen, dass sie existiert hatten, spendete ihr Trost.
Ebba zog die Beine an und schlang schützend die Arme darum. Sie fragte sich, wie es Mårten ging. Seit sie hier war, hatte sie kaum an ihn gedacht, und sie musste zugeben, dass er ihr seit Vincents Tod ziemlich egal war. Sie hatte mit ihrer eigenen Trauer genug zu tun. Durch den neuen Zusammenhang hatte sie zum ersten Mal seit langem das Gefühl, dass Mårten ein Teil von ihr war. Vincent hatte sie für immer miteinander verbunden. Mit wem außer Mårten hätte sie ihre Erinnerungen teilen sollen? Er war an ihrer Seite gewesen, hatte ihren sich rundenden Bauch gestreichelt und Vincents Herz auf dem Ultraschallmonitor pulsieren sehen. Er hatte ihr den Schweiß von der Stirn getupft, ihren Rücken massiert und ihr während der Entbindung zu trinken gegeben – an diesem langen, entsetzlichen und doch so wunderbaren Tag, an dem sie Vincent unter Qualen auf die Welt gebracht hatte. Vincent hatte sich heftig gewehrt, doch als er sie endlich anblinzelte, hatte Mårten ihre Hand genommen und fest gedrückt. Er hatte gar nicht erst versucht, seine Tränen zu verbergen. Dann die gemeinsamen durchwachten Nächte voller Gebrüll, das erste Lächeln und die winzigen Zähnchen. Sie hatten Vincent zugejubelt, als er seine ersten wippenden Krabbelversuche unternahm, und die ersten unsicheren Schritte hatte Mårten gefilmt. Die ersten Worte, der erste Satz und der erste Tag im Kindergarten; Lachen und Weinen; gute und schlechte Tage. Mårten war der Einzige, der sie voll und ganz verstehen würde, wenn sie davon erzählte. Niemand sonst.
Während sie dort auf dem Fußboden saß, wurde ihr Herz auf einmal weich. Was kalt und hart gewesen war, taute allmählich auf. Sie würde noch eine Nacht hierbleiben. Dann würde sie nach Hause fahren. Zu Mårten. Es war Zeit, die Schuld loszulassen und wieder zu leben.
Nachdem
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