Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
dumpf.
Erica stutzte, als sie ihn sah. Das Haar hing ihm strähnig ins Gesicht, als ob er stark geschwitzt hätte, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sein Blick war vollkommen leer.
»Ist Ebba da?«, fragte Gösta. Zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine tiefe Furche gebildet.
»Die ist zu ihren Eltern gefahren.«
Gösta warf Erica einen überraschten Blick zu. »Aber Patrik hat doch mit ihr geredet. Sie soll doch hier sein.«
Erica breitete entschuldigend die Arme aus. Nach einigen Sekunden verfinsterte sich Göstas Miene, aber er sagte nichts.
»Sie ist gar nicht nach Hause gekommen, sondern hat angerufen und gesagt, sie wolle mit dem Auto direkt nach Göteborg fahren.«
Erica nickte, obwohl sie wusste, dass er log. Maria, die das Postschiff fuhr, hatte Ebba ja hier abgesetzt. Sie sah sich so diskret wie möglich um. Ihr Blick blieb an Ebbas Tasche hängen. In der hatte sie die Sachen mit zu Erica genommen, die sie zum Übernachten brauchte. Sie war auf keinen Fall direkt nach Göteborg gefahren.
»Wo ist Anna?«
Mårten sah sie noch immer mit toten Augen an. Er zuckte mit den Schultern.
Das gab den Ausschlag. Ohne noch länger zu überlegen, ließ Erica ihre Handtasche fallen und raste die Treppe hinauf. »Anna! Ebba!«
Keine Antwort. Hinter sich hörte sie schnelle Schritte. Mårten war ihr auf den Fersen. Im Schlafzimmer blieb sie ruckartig stehen. Neben einem Tablett voller Essensreste lag Annas Handtasche.
Zuerst das Boot und nun die Tasche. Widerwillig folgerte sie das Offensichtliche daraus. Wie Ebba befand sich auch Anna noch auf der Insel.
Sie wirbelte herum, um Mårten mit der Wahrheit zu konfrontieren, doch der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Er hatte einen Revolver auf sie gerichtet. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Gösta plötzlich nicht mehr weiterging.
»Stehen bleiben!«, zischte Mårten und machte einen Schritt nach vorn. Die Revolvermündung war nur noch einen Zentimeter von Ericas Stirn entfernt. Er zitterte nicht. »Und Sie gehen dorthin!« Er signalisierte Gösta mit einer Kopfbewegung, dass er sich rechts neben Erica stellen sollte.
Gösta gehorchte sofort. Ohne Mårten aus den Augen zu lassen, kam er mit erhobenen Händen ins Schlafzimmer.
»Hinsetzen!«
Beide ließen sich auf dem frisch geschliffenen Holzboden nieder. Erica betrachtete den Revolver. Woher hatte Mårten den?
»Legen Sie die Waffe weg, dann besprechen wir alles in Ruhe«, sagte sie versuchsweise.
Mårten starrte sie hasserfüllt an. »Wieso? Wegen dieser Schlange ist mein Sohn tot. Was gibt es da zu besprechen?«
Zum ersten Mal kam Leben in den toten Blick. Der Wahnsinn in seinen Augen ließ Erica zurückschrecken. Hatte er sich die ganze Zeit hinter Mårtens beherrschtem Auftreten verborgen, oder hatte dieser Ort ihn ausgelöst?
»Meine Schwester …« Vor Sorge bekam sie kaum noch Luft. Hauptsache, Anna war noch am Leben.
»Ihr werdet sie niemals finden. Und die anderen auch nicht.«
»Die anderen? Meinen Sie Ebbas Familie?«, fragte Gösta.
Mårten schwieg. Er war in die Hocke gegangen, hielt den Revolver aber immer noch auf sie gerichtet.
»Lebt Anna?«, fragte Erica, ohne auf eine Antwort zu hoffen.
Mårten sah ihr grinsend in die Augen. Erica erkannte, dass es mehr als eine Dummheit gewesen war, Gösta anzulügen.
»Was haben Sie vor?«, fragte Gösta, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Mårten zuckte wieder die Achseln. Anstatt etwas zu sagen, setzte er sich im Schneidersitz auf den Fußboden und sah sie einfach an. Er schien selbst nicht zu wissen, worauf er wartete, wirkte aber seltsam friedlich. Nur der Revolver und die kalte Glut in seinen Augen störten das Bild. Und irgendwo auf der Insel befanden sich Anna und Ebba. Tot oder lebendig.
Valö 1973
L aura wälzte sich auf der unbequemen Matratze hin und her. Wenn man bedachte, wie oft sie hier draußen war, hätte man annehmen können, dass Inez und Rune ihr ein besseres Bett zur Verfügung gestellt hätten. Sie mussten doch bedenken, dass sie nicht mehr die Jüngste war. Obendrein musste sie auf die Toilette.
Sie erschauerte, als sie die Füße auf den eisigen Boden stellte. Die Novemberkälte hatte kräftig zugeschlagen, und das alte Haus wollte einfach nicht warm werden. Sie hatte den Verdacht, dass Rune bei den Heizkosten geizte. Besonders großzügig war ihr Schwiegersohn nie gewesen. Die kleine Ebba war niedlich, das musste sie zugeben, aber es reichte ihr, sie ab und zu ein Weilchen auf dem Schoß zu halten.
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