Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
Sie hatte nie viel für Säuglinge übriggehabt und würde sich für ein Enkelkind bestimmt kein Bein ausreißen.
Vorsichtig tappte Laura über die knarrenden Dielen. In den letzten Jahren hatte sie mit besorgniserregender Geschwindigkeit zugenommen, und ihre ehemals schlanke Figur war Geschichte. Wozu sollte sie sich Mühe geben? Meistens hockte sie, sichtlich verbittert, allein in ihrer Wohnung.
Rune hatte ihre Erwartungen nicht erfüllt. Obwohl er ihr eine Wohnung gekauft hatte, bereute sie zutiefst, dass sie nicht auf eine bessere Partie für Inez gewartet hatte. So schön, wie sie war, hätte sie jeden haben können. Rune Elvander war einfach zu geizig und ließ Inez zu viel schuften. Spindeldürr war sie mittlerweile und ständig in Bewegung. Wenn sie nicht putzte, kochte oder Rune half, seine Schüler im Zaum zu halten, verlangte er von ihr, dass sie auf seine ungezogenen Gören aufpasste. Der Kleinste war ganz lieb, aber die beiden Älteren waren wirklich unangenehm.
Leise ging sie die knarrende Treppe hinunter. Wie lästig, dass ihre Blase nicht mehr die ganze Nacht durchhielt. Vor allem bei dieser Kälte war es ein Elend, wenn man nachts auf die Toilette musste. Sie blieb stehen. Im Erdgeschoss war noch jemand. Reglos lauschte sie. Die Haustür ging auf. Ihre Neugier war geweckt. Wer schlich hier mitten in der Nacht herum? Es gab keinen Grund, um diese Zeit auf den Beinen zu sein, wenn man keinen Unfug im Kopf hatte. Sicher trieb da wieder einer dieser verwöhnten Bengel sein Unwesen, aber da würde sie schon einen Riegel vorschieben.
Als sie im Hausflur die Tür ins Schloss fallen hörte, hastete sie die letzten Treppenstufen hinunter und schlüpfte in ihre Stiefel. Sie wickelte sich einen warmen Schal um, öffnete die Haustür und blickte nach draußen. Es war schwierig, im Dunkeln etwas zu erkennen, aber als sie hinaustrat, sah sie links einen Schatten hinterm Haus verschwinden. Nun musste sie es schlau anstellen. Tastend ging sie die möglicherweise vereisten Steinstufen hinunter. Als sie sicher unten angekommen war, hielt sie sich rechts und nicht links. Sie würde der Person direkt entgegenkommen und sie somit, was immer sie auch trieb, auf frischer Tat ertappen.
Langsam bog sie ganz dicht an der Wand um die erste Hausecke. An der zweiten Ecke blieb sie stehen und blickte vorsichtig hinters Haus. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Laura runzelte die Stirn und sah sich enttäuscht um. Wo war die Person, die sie gesehen hatte, abgeblieben? So leise wie möglich machte sie ein paar Schritte geradeaus und versuchte dabei, das ganze Grundstück im Blick zu behalten. War die Person vielleicht ans Wasser gegangen? Dorthin würde sie sich nicht wagen. Es bestand die Gefahr, dass sie ausrutschte und hinfiel. Der Arzt hatte ihr von Anstrengungen abgeraten. Sie durfte ihrem schwachen Herzen nicht zu viel zumuten. Bibbernd zog sie den Schal enger. Die Kälte kroch ihr unters Nachthemd, und sie klapperte bereits mit den Zähnen.
Als plötzlich eine dunkle Gestalt vor ihr stand, schrak sie zusammen. Dann sah sie, wer es war.
»Oh, du bist das. Was machst du denn hier?«
Die kalten Augen jagten ihr einen noch eisigeren Schauer über den Rücken. Sie waren so dunkel wie die Nacht. Langsam machte Laura einige Schritte rückwärts. Sie erkannte, dass sie einen Fehler begangen hatte. Noch ein paar Schritte. Nur noch ein paar, dann wäre sie um die Ecke und könnte zur Haustür huschen. Bis dahin war es zwar nicht weit, aber es hätten auch mehrere Kilometer sein können. Wie gelähmt vor Schreck starrte sie in die pechschwarzen Augen und wusste, dass sie das Haus nie wieder betreten würde. Auf einmal dachte sie an Dagmar. An dieses Gefühl von Ohnmacht. Sie war gefangen und konnte nirgendwohin. In ihrer Brust zerbrach etwas.
P atrik sah auf die Uhr. »Wo zum Teufel steckt Gösta? Er hätte vor uns hier sein müssen.« Er und Mellberg waren im Auto sitzen geblieben. Leons Haus ließen sie nicht aus den Augen.
In diesem Moment hielt ein bekannter Wagen neben ihnen. Verblüfft erblickte Patrik Martin hinter dem Steuer.
»Was machst du denn hier?« Er stieg aus.
»Deine Frau hat mich angerufen. Sie sagte, es sei Notstand ausgebrochen und ihr bräuchtet Hilfe.«
»Wie …?«, begann Patrik, biss sich aber auf die Zunge. Dieses Miststück. Natürlich hatte sie Gösta überredet, sie mit nach Valö zu nehmen. Wut und Sorge zugleich erfüllten ihn. Das konnte er jetzt am allerwenigsten gebrauchen. Sie
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