Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
an Leon. Warum zögerte er? Wollte er nicht aufdecken, was an jenem Ostersonnabend 1974 wirklich passiert war? Hatte er kalte Füße bekommen? »Wir glauben, dass sie ihren Pass eingesteckt und sich nach den Morden ins Ausland abgesetzt hat. Denn es war doch Mord, oder?«
Sebastian fing an zu lachen.
»Was ist so lustig?«, fragte Martin.
»Nichts. Rein gar nichts.«
»Hat Ihr Vater ihr geholfen unterzutauchen? Waren Sie und Annelie ein Paar? Steckten Sie in der Klemme, weil Rune Ihnen auf die Schliche gekommen war? Wie haben Sie die anderen dazu gebracht, all die Jahre zu schweigen?« Patrik zeigte auf das Grüppchen von Männern im mittleren Alter. Er hatte das Foto vor Augen, das am Tag nach dem Verschwinden der Familie gemacht worden war. Die trotzigen Blicke. Leons natürliche Autorität. Trotz der grauen Haare und der gealterten Gesichter waren sie sich immer noch ähnlich. Und sie hielten zusammen.
»Erzähl doch mal von Annelie.« Sebastian grinste. »Du bist doch so scharf auf die Wahrheit. Los, erzähl von Annelie.«
Blitzartig kam Patrik eine Idee.
»Ich bin Annelie schon begegnet, nicht wahr? Es ist Ia.«
Keiner verzog eine Miene. Ängstlich und zugleich erleichtert sahen sie Leon an.
Leon richtete sich in seinem Rollstuhl auf. Dann drehte er sich so zu Patrik, dass die Sonne auf seine vernarbte Gesichtshälfte fiel.
»Ich werde von Annelie erzählen. Und von Rune, Inez, Claes und Johan.«
»Überleg dir das gut, Leon«, sagte John.
»Ich habe lange genug nachgedacht. Es ist jetzt an der Zeit.«
Er atmete tief ein, hatte aber noch kein Wort gesagt, als die Haustür geöffnet wurde. Ia stand da. Sie ließ ihren Blick von einem zum anderen wandern. Als sie die Pistole in Percys Hand entdeckte, riss sie die Augen auf. Dann ging sie zu ihrem Mann, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte mit sanfter Stimme:
»Du hattest recht. Man kann nicht ewig davonlaufen.«
Leon nickte. Und dann erzählte er.
Anna machte sich mehr Sorgen um Ebba als um sich selbst. Ebba war blass und hatte rote Flecken und Abdrücke am Hals, die von Händen zu stammen schienen. Mårtens Händen. Annas Hals wiederum fühlte sich wund beim Schlucken an. Hatte er ihr Drogen verpasst? Sie hatte keine Ahnung, und das machte ihr wohl am meisten Angst. Berauscht von Bestätigung und Nähe war sie in seinen Armen eingeschlafen und hier auf dem kalten Steinfußboden wieder aufgewacht.
»Hier liegt meine Mutter.« Ebba blickte in eine der Kisten.
»Das weißt du doch nicht.«
»Nur einer der Schädel hat langes Haar. Sie muss es sein.«
»Es könnte auch deine Schwester sein«, sagte Anna. Sie überlegte, ob sie den Deckel zuklappen sollte, aber Ebba war so lange über ihre Familie im Ungewissen gewesen. Was sie hier sah, war eine Antwort.
»Wo sind wir?«, fragte Ebba, ohne den Blick von den Skeletten zu wenden.
»In einem Schutzraum, schätze ich. Die Flagge und die Uniformen könnten bedeuten, dass er im Zweiten Weltkrieg errichtet wurde.«
»Unglaublich, dass sie hier liegen. Warum hat sie niemand gefunden?«
Ebba wirkte immer abwesender. Anna begriff, dass sie das Kommando übernehmen musste, wenn sie hier raus wollten.
»Wir brauchen einen Gegenstand, mit dem wir die Tür aufbrechen können.« Anna stupste Ebba an. »Du suchst in dem Gerümpel in der Ecke, und ich gucke …« Sie zögerte. »Ich gucke in die Kisten.«
Ebba sah sie entsetzt an. »Was … wenn sie kaputtgehen?«
»Wenn wir die Tür nicht aufbekommen, sterben wir hier drin«, sagte Anna laut und deutlich. »Vielleicht liegt Werkzeug in den Kisten. Wenn du die Kisten nicht durchsuchst, mache ich es. Du hast die Wahl.«
Eine Weile stand Ebba reglos da und schien über Annas Worte nachzudenken. Dann drehte sie sich um und machte sich daran, das Gerümpel zu sichten. Anna glaubte zwar nicht, dass sich etwas Brauchbares darunter finden ließ, aber zumindest war Ebba beschäftigt.
Anna holte tief Luft und steckte die Hand in eine der Kisten. Sofort stieß sie mit den Fingerspitzen auf Knochen. Ihr wurde übel. Als trockenes Haar sie kitzelte, konnte sie einen Schrei nicht unterdrücken.
»Was ist?« Ebba drehte sich um.
»Nichts.« Anna riss sich zusammen und steckte ihre Hand noch tiefer in die Kiste. Nun hatte sie den Boden erreicht. Sie beugte sich vor, um zu sehen, ob dort etwas lag. Plötzlich spürte sie etwas Hartes. Sie griff mit Daumen und Zeigefinger danach, obwohl es zu klein war, um die Tür damit aufzubrechen. Trotzdem holte sie den
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