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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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mischten ganz selbstverständlich Teile davon in ihre eigene. Für die Begegnungen mit Fremden trug er immer ein Schiefertäfelchen und ein Stück Kreide bei sich. Dennoch, ob mit dem Täfelchen oder mit seiner eigenen Sprache – auf Fragen nach seiner Herkunft und nach dem, was damals in Leipzig geschehen war, wollte er nie antworten. Vielleicht konnte er es nicht. Es gebe Menschen, hatte Dr.   Struensee ihr erklärt, die nach einem schweren Unfall oder einem anderen entsetzlichen Erlebnis alles Vorherige oder – was häufiger vorkomme – das Geschehen um das Unglück selbst vergäßen.
    ‹Stumm hin, stumm her›, dachte Rosina, als sie MacGavins Druckerei erreichte, ‹eine wichtige Verabredung zu vergessen, entschuldigt das nicht.›
    Als er ausblieb, hatte sie sich nicht gesorgt. Er war sechzehn oder siebzehn Jahre alt, genau wusste auch das niemand, außer – vielleicht – ihm selbst, da ist die Welt noch voller fesselnder Wunder, die alles andere vergessen machen können. So hatte sie auf der Piazza nach ihm gesucht, ein sinnloses Unterfangen, dort drängten sich die Menschen an einem Sommerabend zu Tausenden, von Muto wie von dem Pantomimen war weit und breit nichts zu sehen gewesen.
    Um noch halbwegs pünktlich die Ave Maria Lane zu erreichen, war sie in eine Droschke gestiegen. Sie hatte an der Ecke Ludgate Street halten lassen, just als es von der Kathedrale achtmal schlug.
    ‹Kommt gegen acht Uhr›, hatte er gesagt, ‹dann sind Eure Listen ganz sicher fertig. Dann ist auch die meiste Arbeit getan und wir stören niemanden, wenn ich Euch das Drucken zeige.›
    Gegen acht, das durfte auch ein wenig nach acht sein. Sie konnte noch an der Ecke warten, vielleicht war Muto inzwischen in der Henrietta Street gewesen und Helena hatte ihn ihr gleich nachgeschickt. Die Droschke war langsam gerollt, und er war ein flinker Läufer.
    Doch nun mochte sie nicht mehr warten. Falls Bendix Hebbel zur Ungeduld neigte, riskierte sie, dass er nach vergeblichem Warten die Druckerei verließ. Vielleicht durch den anderen Ausgang zur Pater Noster Row.
    Aus dem Durchgang zum Innenhof der Druckerei kamen ihr Männer und Jungen entgegen, das mussten die Drucker, Setzer, Korrektoren und Lehrlinge sein, alle eilig,nach getaner Arbeit auf dem Weg nach Hause zu ihren Familien.
    Diesmal stand die Tür zur Druckerei weit offen. Rosina trat in einen Vorraum mit einem von schweren, schon vor sehr langer Zeit verlegten Steinplatten bedeckten Boden. Links und rechts führten zwei Türen zu Lagerräumen, gegenüber der Eingangstür einige ebenfalls steinerne Stufen zum Hochparterre. Auch dessen Tür stand offen, so trat sie ein und fand sich in der Druckerei wieder. Sie war erheblich größer als die Boehlich’sche in Hamburg. Dort gab es nur drei Pressen, hier standen sechs, auch wirkten sie schwerer und zwei von ihnen beinahe neu. Alle waren gut gepflegt und frei von Staub wie der ganze große Raum. Mr.   MacGavin hielt auf gute Ordnung, hier stand nichts Unnützes herum. Die kleinen Wannen waren geleert und wie die lederbezogenen, mit einem kräftigen Griff versehenen Ballen für die Druckerschwärze gründlich gesäubert, die Lettern in ihren Setzkästen auf den schrägen Tischen schimmerten matt, wie es sich gehörte, in langen Regalen entlang einer Wand lag Papier, nach Qualitäten und Sorten akkurat gestapelt. Über hoch unter der Decke angebrachten Leinen hingen lange Reihen bedruckter Bögen zum Trocknen.
    Obwohl der Raum tief in das Gebäude reichte, war er licht, jedenfalls musste er es bis weit in den Nachmittag sein. Obwohl diese Sommertage so nahe bei Johanni die längsten des Jahres waren, kroch der abendliche Dämmer nun in den Raum. Die Sonne stand zwar noch am Himmel, doch schon tief, und als sie aus der Droschke gestiegen war, hatten sich von Westen her dunkle Wolken herangeschoben, die nun den Raum immer mehr verdüsterten.
    An einem großen Tisch vor einem der Fenster saßen,durch halb hohe hölzerne Wände vor der gewöhnlichen Betriebsamkeit geschützt, zwei Korrektoren über frisch bedruckten Bögen. Die Augen auf den Lauf der Zeilen konzentriert, bewegten sie ihre Lippen rasch und lautlos und hielten die Federn für die Korrekturzeichen mit ihrer ganz eigenen Sprache bereit.
    Sie beachteten die späte Besucherin nicht, und Rosina verstand, dass sie so kurz vor ihrem Feierabend keinesfalls gestört werden wollten.
    «Guten Abend», sagte eine leise Stimme hinter ihr, sie fuhr herum und sah in Bendix Hebbels

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