Die englische Episode
nur den halben Eintrittspreis. Auf der Suche nach Freunden und einem besseren Platz wanderten die Menschen umher wie auf einem Jahrmarkt, sie umlagerten die Orangenverkäuferinnen, tauschten Klatsch und Familiennachrichten aus, zankten über die Politik oder über den Zustand der Londoner Straßen. Einige waren sogar in Gespräche über die Qualitäten der Stücke und Akteure vertieft, verglichen Mr. Garrick mit Mr. Foote und Mr. Macklin oder schwelgten immer noch in der Erinnerung an das erste große Shakespeare-Jubelfest, zu dem im vergangenen September Tausende in das Städtchen Stratford gepilgert waren, um die Aufführungen, Umzüge und Feuerwerke zu Ehren des größten Dichters aller Zeiten zu erleben.
Dazu war eigens nahe dem Fluss ein Oktogon mit tausend Plätzen errichtet worden, Mr. Garrick – Initiator des Ganzen – hatte eine (ziemlich lange) Ode verfasst, Dr. Thomas Arne, dessen glorreiches Lied
Rule Britannia
seit Jahren ganz London sang, eine erhebende Musik fürChor und Orchester dazu komponiert. Ein Denkmal des großen Poeten wurde enthüllt, und auch der anschließende Maskenball suchte seinesgleichen. Nur das Feuerwerk verweigerte sich wegen des unermüdlichen Regens, so wie die venezianischen Gondeln wegen des Avon-Hochwassers in den Schuppen bleiben mussten.
Der grandiose Erfolg hatte Mr. Garrick veranlasst, seine Ode (samt Chor und Orchester) im Winter auch auf der Londoner Bühne zu präsentieren. Die Vorstellung war ausverkauft, dennoch waren sich alle einig, dass das grandiose Spektakel in Shakespeares Heimatstadt unwiederholbar war. Die Tage auf den Wiesen vor der Stadt, die Schlafplätze in Zeltstädten, auf Karren – selbst etliche Edelleute hatten keine Herberge als ihre Kutschen gefunden – waren eben ein einziges buntes Abenteuer gewesen. Fast so schön wie die erhabenen Kunstgenüsse zu Ehren des Jubilars.
Rosina und Helena sahen auf das Gewoge der Menge hinunter und versuchten den Rest der Becker’schen Gesellschaft zu entdecken. Der war ihnen schon abhanden gekommen, als sie sich, ihre Billetts fest in der Hand, durch die noch auf Einlass wartende riesige Menschenmenge zum Portal zwängten.
Sie hatten Glück gehabt und Plätze an der Brüstung des zweiten Ranges ergattert. Die Schwüle war aber genauso drückend wie auf der Galerie unter dem Dach, und als Rosina die Orangenverkäuferinnen im Parkett entdeckte, überließ sie Helena die Verteidigung ihrer Plätze und drängelte sich die Stufen wieder hinunter.
Die Mädchen, jedes einen Knirps zur Seite, der darauf achtete, dass niemand in die Körbe mit den saftigen Früchten griff, ohne zu bezahlen, waren umlagert. Rosinamachte ein hilfloses Gesicht zur piepsigen Stimme, eine Rolle, die ihr harte Übung abgefordert hatte, und schnell waren zwei breite Herren in seidenen Röcken lautstark damit beschäftigt, die zarte Miss mit Orangen zu versorgen. Sollten sie dafür anderes als die Pennies für die Früchte erwartet haben, wurden sie enttäuscht. Rosina wickelte ihre Beute in ihr Schultertuch, hoffte, sie unzerquetscht bis zu Helena zu bringen, und schob sich zurück zur Treppe.
«Miss Hardenstein?», hörte sie plötzlich eine amüsierte Stimme. «Ihr seid es tatsächlich. Beinahe hätte ich Euch nicht erkannt.»
Ein schlanker Mann im eleganten nachtblauen Seidenrock trat von der letzten Stufe hinunter ins Parkett und beugte sich leicht über ihre Hand.
Rosina schluckte. Selbst wenn sie darüber nachgedacht hätte, hätte sie nicht erwartet, in diesem Gewühl ausgerechnet einen der Gäste von Mrs. Culters Soiree zu treffen. Der Unterschied zwischen der Seidenrobe (die tatsächlich einmal der Herzogin von York gehört hatte) zu ihrem schlichten Kattunkleid musste sie als eine Schwindlerin erscheinen lassen. Was nicht ganz falsch war. Andererseits galten die Engländer als exzentrisch genug, eine unpassende Garderobe als Marotte zu empfinden. Leider waren weder er noch sie Engländer.
Trotzdem zeigte sein Gesicht kein Erstaunen oder gar Missfallen. Mrs. Cutler hatte nicht versäumt, die wahre Identität von Madame Augustas junger Freundin umgehend in den Salons zu verbreiten.
«Guten Abend, Graf Alwitz», sagte sie mit allem, was ihr an Würde und Contenance zusammenzukratzen gelang.«Wie reizend, Euch hier zu treffen. Gehört Ihr auch zu den Verehrern Mr. Garricks?»
«Unbedingt. Das muss ich, selbst wenn ich es nicht wollte», versicherte er mit heiterem Spott. «In London leistet sich
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