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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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wortkarge Kerle allesamt, und wenn der Gedanke nicht so töricht gewesen wäre, hätte er darauf gewettet, dass der Kapitän ihnen das Sprechen mit denPassagieren verboten hatte. Selbst Anne, die doch leicht mit jedermann ins Gespräch kam und in allem Interessantes entdeckte, bekam nur karge Antworten. Einzig der Kapitän, mit dem sie die Mahlzeiten teilten, sprach mit ihnen, wenn auch nur über die See und das Wetter.
    Die Scillys mit ihren Riffen waren nun längst hinter dem dunstigen Horizont verschwunden, die Sonne stand niedrig und der Wind frischte auf. Jetzt war es bald geschafft. Dass er so lange Zeit, nahezu zehn Monate, auf Reisen war, erschien Claes unwirklich. Wie Anne freute er sich, zurückzukehren zu allem, was ihm vertraut war. Zugleich bereiteten ihm die Gedanken an sein Haus, an das Kontor, an die einander ähnelnden Gespräche an der Börse und im Kaffeehaus ein seltsames Unbehagen. Als drohe ihm, dort wieder zu verlieren, was er während er vergangenen Monate entdeckt hatte.
    Die einsame Reise mit Anne empfand er als reines Glück. So lange auf See, ganz ohne Pflichten, Einladungen und Beschäftigungen, zur Unterhaltung nichts als die Farbenspiele und Bewegungen von Himmel und Ozean und das einzige Buch an Bord, die Bibel, hatte sie einander neu, womöglich überhaupt zum ersten Mal, finden lassen. Egal, was vor ihnen liegen mochte, so hatten sie einander versichert, nun konnte sie nichts und niemand mehr trennen.
    «Nichts und niemand», rief er vergnügt einer hoch über ihm auf dem Wind gleitenden Möwe zu und kümmerte sich nicht darum, ob einer der Seeleute ihn für wunderlich halten mochte. Er ließ den Blick über die Segel gleiten, und nun, so kurz vor dem Ziel, beunruhigten ihn die zahllosen Flicken in der alten Leinwand nicht mehr.
    Es musste lange nach Mitternacht sein, als er von einem kreischenden Poltern und Stoßen und dem Trampeln eiliger Füße geweckt wurde. Da flog auch schon die Kajütentür auf, ein struppiger Kopf, in der Dunkelheit kaum zu erkennen, schob sich herein, brüllte etwas von ‹Havarie› und ‹schnell, schnell›, das Boot sei schon im Wasser, und verschwand wieder. Erst jetzt spürte er die schwere Schlagseite des Schiffes, Anne sprang schon aus der Koje und eine Minute später krochen sie über das Deck zur Reling. Die Nacht war schwarz wie eine Kohlengrube, tief unter ihnen dümpelte das Beiboot im Wasser, das Schaumkronen tanzen ließ, als freue es sich schon auf die sichere Beute.
    Nur der Kapitän war noch an Bord. Er schob Anne hastig zur Strickleiter, griff nach ihren Handgelenken, gleich darauf rutschte sie hinunter, wurde von den Männern im Boot aufgefangen und zur Seite geschoben wie ein Stück Ladung.
    «Los», schrie der Kapitän gegen den Wind und stieß Claes vorwärts, «los jetzt. Oder wollt Ihr mit absaufen?»
    Claes rutschte an den nassen Stricken hinab, ‹durch nichts und niemanden trennen›, schoss ihm durch den Kopf, da hob eine Welle das Beiboot, drängte es zur Seite, und Claes Herrmanns, den seine Unfähigkeit zu schwimmen schon zweimal fast das Leben gekostet hatte, hörte Anne aufschreien und fühlte die Kälte des Ozeans über sich zusammenschlagen.

KAPITEL 12
    Schließlich gab Molly auf. Sie rang immer noch die Hände, beschwor immer noch die ganz gewiss schrecklichen Folgen, doch da sie endlich und mit großer Erleichterung begriffen hatte, dass Lady Florence diesen Ausflug ohne ihre Zofe unternehmen wollte, lief sie davon, um ihren Auftrag zu erfüllen. Sie würde schon etwas finden, wenigstens brauchte Lady Florence keine fremden Schuhe, die schweren ledernen, mit denen sie in den Parks herummarschierte, würden gerade richtig sein. Vor allem wenn sie ihre Röcke raffen und blitzschnell davonlaufen musste. Molly zweifelte keine Sekunde daran, dass dieser Moment unausweichlich kommen würde.
    Florence lauschte kurz Mollys sich rasch entfernenden Schritten im Flur nach und wandte sich wieder den Schränken ihres Ankleidezimmers zu. Bis heute hatte sie gedacht, dass sich darin auch Praktisches für jede Gelegenheit fand. Aber es stimmte nicht, jedenfalls nicht für heute Abend. Sie begegnete ihrem Bild in dem Spiegel zwischen den beiden schmalen Fenstern, stellte sich vor, wie sie bald aussehen würde, und floh in das Schlafzimmer. Wenigstens ihr Mieder und ihre Unterröcke würde sie tragen können, niemand würde sie sehen.
    Sie ging zu ihrem Lieblingsplatz am Fenster, ließ ihren Blick über die Wege des kleinen Gartens

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