Die englische Episode
wandern, langsam,Schritt für Schritt, bis zur Pforte in der Mauer, und kicherte nervös. Vielleicht war sie verrückt, ihr Kichern hörte sich durchaus danach an, aber in ihr war nichts als freudige Erregung. Gleichgültig, was der Abend bringen, was sie erfahren würde, das hilflose Warten, dieses Gefühl der Starre, war bald zu Ende. So oder so.
Auf der Fensterbank lag ein kleiner Fetzen Spitze. Sie legte ihn behutsam auf ihre Hand und fuhr mit dem Zeigefinger die Linien des zarten Gewebes nach. Sie hatte gedacht, ihr Ring habe es abgerissen, doch nun sah sie, dass die frei hängenden Fäden schmutzig waren. Irgendetwas Scharfes oder Kantiges, etwas wie ein rostiger Nagel oder Haken hatte die Spitze eingerissen, bevor sich ihr Ring darin verfing, als Willliam hastig seinen Arm zurückzog.
Sie war in ihr Zimmer gelaufen, und an diesem Fenster hatte sie darauf gewartet, dass er ihr folgte. Eine dumme Hoffnung. Das hatte sie auch gestern Nacht gewusst, sie hatte es trotzdem getan und gefühlt, wie sehr sie es sich wünschte. Und dann war endlich dieser Zorn in ihr aufgestiegen – heiß und belebend wie ein bitteres Elixier gegen die Melancholie – und jagte letzte Zweifel an ihrem Plan davon.
Sie hatte nicht gewusst, dass Liebe und Zorn – das Wort Hass wagte sie nicht zu denken – so eng miteinander verwandt sind. Und zum ersten Mal dachte sie, dass auch seine Kälte und die verborgene Wut, die sie oft bei ihm spürte, vielleicht ebenso wenig rein und klar waren wie die ihre. Das Leben der Männer unterschied sich wohl grundlegend von dem der Frauen, aber vielleicht fühlten sie in der Tiefe ihrer Seelen doch nicht völlig verschieden?
Er war spät in der Nacht heimgekommen. Sie hatte seine leisen Schritte auf der Treppe gehört, wie so oft. Anders als gewöhnlich wurde es in seinem Schlafzimmer jedoch nicht bald darauf still. Sie hörte ihn mit seinem Diener reden, nicht mehr als ein Murmeln drang zu ihr herüber, dann entfernten sich Georges Schritte auf der Treppe zu den Gesindezimmern.
Müde kroch sie unter ihre Decke und schloss die Augen, aber sie konnte nicht einschlafen. Wieder hörte sie ihn umhergehen und wusste, dass er nun das Fenster öffnete – das tat er immer, bevor er zu Bett ging – und begann, seine Kleider abzulegen. Er hatte George noch nie erlaubt, ihm dabei zu helfen, wie es doch die Pflicht eines Kammerdieners ist. In dieser Nacht hörten die Schritte nicht auf. Sie waren leise, doch unermüdlich. Immer wenn sie dachte, er habe endlich Ruhe gefunden, begannen sie von neuem. Schließlich zog sie die Decke über den Kopf und befahl sich zu schlafen.
Da fiel ihr der Wolf ein, den sie vor vielen Jahren in einem Zwinger bei den Ställen eines der großen Güter gesehen hatte. Er war unermüdlich an dem Gitter, das ihn von der Freiheit trennte, entlanggelaufen, hin und her, hin und her. Sie hatte das große struppige Tier mit den schmalen unergründlichen Augen nie vergessen. Als sie damals erfuhr, dass man ihn bald töten würde, weinte sie und ihre Brüder lachten sie aus. Ein Wolf sei nur ein böses wildes Vieh, erklärten sie, es reiße die Lämmer, töte sogar Menschen und müsse deshalb selbst getötet werden.
Später entwischte sie ihrer Gouvernante und lief zu dem Zwinger zurück. Sie steckte ihre Finger zwischen den Gitterstäben hindurch und versuchte, den Wolf tröstendzu berühren. Er unterbrach seine ruhelose Wanderung und sah sie an. Langsam, als zögere er und erfülle nur seine Pflicht, zog er die Lefzen hoch und gab das kräftige Gebiss mit den Reißzähnen frei, ein tiefes Knurren stieg aus seiner Kehle auf, und da hörte sie den Schrei ihrer Gouvernante, fühlte sie sich zurückgerissen, und das Tier hinter den Gitterstäben nahm seine Wanderung wieder auf, als habe es sie nie unterbrochen. Florence glaubte bis heute nicht, dass er sie gebissen hätte.
Wie töricht, jetzt an den Wolf zu denken. Als habe ausgerechnet William, dieses Muster vornehmer Erziehung, irgendetwas mit einem wilden Tier gemein.
Sie schlug die Decke zurück, setzte sich auf, und da war es wieder, dieses ruhelose Umherwandern. Rasch, bevor die Vernunft sie einholen konnte, glitt sie aus dem Bett, warf sich den Frisiermantel über ihr Nachtgewand und öffnete die Tür zu Williams Zimmer.
Er stand am Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus, mit den Gedanken zu weit fort, um ihr Eintreten zu bemerken.
«William», sagte sie leise.
Sein Rücken richtete sich steif auf, er wandte sich um und
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