Die englische Episode
unterhaltsamen Etablissements verbrachte, beeinträchtigten zumindest seine äußere Erscheinung nicht. Er war schlank, gehörte bei jeder Fuchsjagd zu den Siegern, und seine gelassene Art, sich zu bewegen, zeigte jene Selbstsicherheit, die Mitglieder sehr alter Familien auch dann nicht verlieren, wenn sie alles andere verloren haben. Sein Gesicht wirkte schmal, doch es hatte klassische Proportionen, die ohne die kräftigen Augenbrauen langweilig hätten wirken können.
Augusta bemühte sich, ihn nicht zu sehr anzustarren. Sie hatte viel von dem Mann gehört, den Cilly für ihre einzige Tochter ergattert hatte. Sie wusste auch, dass es eine dieser von den Familien arrangierten Ehen war, die sich bei Licht besehen als ein Tauschgeschäft darstellten: viel Geld gegen einen Titel und Verbindungen zum Hof. Als sie Florence gleich nach ihrer Ankunft vor einer Woche kennen lernte, war sie sicher gewesen, dass sie eine junge Dame war, die sich nicht einfach verhandeln ließ,sondern ihre eigenen Wünsche durchzusetzen verstand. Florence war vierundzwanzig Jahre alt, also hatte Augusta dabei an Liebe gedacht. Nun schalt sie sich sentimental.
William Wickenham konnte nur wenige Jahre älter als seine Frau sein. Der Ausdruck seiner dunklen Augen, die in befremdlichem Kontrast zu seinem hellen Haar und Teint standen, zeigte dennoch eine abgeklärte Müdigkeit. Und der Blick auf seine Frau nicht das geringste Gefühl.
«Florence, meine Liebe», sagte er, nachdem er Cillys aufgeregte Begrüßung und die Vorstellung Augustas mit erlesener Höflichkeit absolviert hatte, «hast du heute wieder einen praktischen Tag? Wie amüsant.»
Florence schlug den Hammer kräftig auf den letzten Nagel und warf einen prüfenden Blick auf ihr Werk, dann erst sah sie auf ihren Mann hinab.
«Ja», sagte sie, «amüsant, nicht war? Wie ich sehe, hast du gestern Abend auch Amüsantes erlebt. Hast du dich geschlagen?»
«Aber Florence, ich bitte dich.» Mrs. Cutler rang flatternd die Hände. «Der liebe Lord William würde doch nie …»
«Niemals», versicherte er, reichte seiner Frau die Hand, während sein ausdrucksloser Blick kurz ihre Schuhe streifte, und half ihr von der Leiter. «Die Schramme auf der Stirn ist nicht der Rede wert. Nur ein kleines Rencontre im Gedränge. Wirklich nicht der Rede wert.»
Kaum am Fuß der Leiter angelangt, entzog Florence ihrem Mann abrupt ihre Hand. «War das Theater in Covent Garden so voll?», fragte sie, die Augen fest auf die neuen Gardinen gerichtet.
«Ziemlich», sagte er leichthin und schob die Hände in die Taschen seines Rockes, «wie immer.»
Augusta fröstelte. Sie war fast noch ein Kind gewesen, als ihre Eltern sie vor mehr als einem halben Jahrhundert an einen Kopenhagener Kaufmann verheirateten, den sie erst eine Woche vor der Hochzeit kennen lernte. Dennoch war ihre Ehe über die Maßen glücklich gewesen. Auf Florence’ Ehe traf das eindeutig nicht zu.
KAPITEL 4
Die Glocke der kleinen St.-Pauls-Kirche an der Covent Garden Piazza klang, als freue sie sich über den schönen Maimorgen. Rosina stieß das Fenster weit auf und lehnte sich hinaus. Heute roch die Luft weniger nach Kohlenruß als in den vergangenen beiden Tagen, als eine tiefe Wolkendecke die Ausdünstungen der Stadt festgehalten hatte. Selbst der Lärm von der Piazza, der auch in den Nächten kaum eine Pause machte, klang milder.
Als die Becker’schen Komödianten mit ihren Taschen und Bündeln aus dem Boot geklettert und eine der engen Stiegen vom Ufer heraufgekommen waren, hatten sie vor dem lärmenden Gedränge gestanden wie vor einer wilden, völlig aus dem Ruder geratenen Theateraufführung. Obwohl sie doch alle, bis auf Wagner und Karla natürlich, schon viele, auch große Städte erlebt hatten, waren sie sich auf dem kurzen Weg zur Henrietta Street in Covent Garden wie ein Häuflein Waldmenschen vorgekommen, das es unversehens in einen apokalyptischen Trubel geworfen hatte.
Dabei war das Areal, das dem Stadtviertel seinen Namen gegeben hatte, vor langer Zeit der Garten des Convents der Westminster Abbey gewesen. Ein Hort der Frömmigkeit und der Stille, an dem die Mönche alles anbauten, was sie für ihren Speiseplan brauchten. Womöglichhatten sie auch zwischen duftenden Heilkräutern und auf den Wiesen unter den Obstbäumen Zwiesprache mit ihrem Gott gehalten.
Heute war Covent Garden ein dicht bebautes Areal, doch immer noch gab es jede Menge Obst und Gemüse. Tag für Tag verkauften die Händler auf dem
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