Die englische Episode
aufrechten Schultern, ihr gewiss nicht dicker, gleichwohl für ihre geringe Körpergröße nach der herrschenden Mode eindeutig zu stämmiger Körper. Hätte die Natur ihr wenigstens die bei jungen Damen so ansprechend wirkende weiblichweiche Rundlichkeit gegönnt, die an diese kleinen italienischen Engel erinnerte – kurz gesagt, Florence Wickenhams Erscheinung war ohne Zweifel elegant und beindruckend, doch sie entsprach nicht dem Ideal der Ballsäle ihrer Zeit.
Und erst ihr Schuhwerk. Florence war froh, dass ihre Mutter es noch nicht entdeckt hatte. Sie hatte die festen Lederschuhe im März arbeiten lassen, als die Tage nach Frühling rochen und sie ein heftiges Bedürfnis nach Bewegung an frischer Luft spürte, nach langen Schritten, die in den zierlichen Gebilden, die Damen an ihren Füßen zu tragen hatten, unmöglich waren. Ihre Hand löste sich behutsam vom Henkel der Tasse und schob ihren Rock ein wenig weiter über ihre akkurat nebeneinander stehenden Füße, obwohl die unter dem Tisch des Salons vor den Augen ihrer Mutter sicher waren.
«Glaub mir, Florence, der Puder ist wunderbar», sagte Mrs. Cutler. Sie saß ihrer Tochter in einem zierlichenLehnstuhl gegenüber und hatte immer noch ausschließlich Augen und Gedanken für den erschütternden Zustand der Nase ihrer Tochter. «Ich gehe natürlich nie so leichtfertig in die Sonne, aber eine rote Nase erwischt uns alle mal. Ich meine, widerfährt uns bei Gelegenheit, nun ja, hin und wieder. Jedenfalls, so solltest du nicht aus dem Haus gehen, meine Liebe, nicht einmal in deinen eigenen Salon. Am besten fragst du Rose, sie ist so wunderbar geschickt in diesen Dingen und weiß, wo du den besten Puder bekommst. Eine zarte Haut, mein Kind, ist das Geheimnis jeder Schönheit. So sag doch etwas!»
«Gewiss, Mama, der Puder. Ich werde Rose fragen.»
Als gehorsame, aber nicht dumme Tochter hatte Florence schon früh die kleinen Schlichen gelernt, mit denen sie ihre Mutter zufrieden stellte, ohne auf die eigenen Wünsche und Überzeugungen zu verzichten. Also würde sie die Zofe ihrer Mutter nach dem Puder fragen, ihn aber gewiss nicht kaufen. Sie erinnerte sich noch gut an Roses Empfehlung für ein Mittel, die langsam ergrauenden Haare ihrer Herrin wieder in makellosem Mahagonibraun schimmern zu lassen. Die Zofe schwor auf ein Gebräu aus grünem Eisenvitriol, rotem Wein, Kupferoxid und aleppischen Galläpfeln, das ‹Lotion Laforest› genannt und als absolut ungiftig gepriesen wurde. Zu Mrs. Cutlers Glück hatte die Köchin sich und ihren graubraunen Schopf für eine erste Probe angeboten – sie war danach wochenlang mit einer fest um den Kopf gebundenen Haube herumgelaufen, unter der ab und zu grünlich-stumpfe Strähnen hervorrutschten. Mrs. Cutler beklagte nie wieder die Silberfäden in ihrem Haar.
Florence sah ihre Mutter mit freundlicher Nachsichtan. «Ich will mich bessern», versprach sie. «Aber ich glaube nicht, dass es viel nützt.» Ihre strengen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das ihr Gesicht auf verblüffende Weise veränderte.
Ihre Mutter seufzte ergeben. Cilly Cutler war eine gertenschlanke, um nicht zu sagen dünne Dame, die auch mit ihren beinahe fünf Jahrzehnten wie eine zarte, nur ganz wenig welke Blume wirkte. Leider hatte Florence nicht nur Statur und Nase ihres Vaters geerbt, sondern auch seinen kühlen Verstand. Sie ließ sich niemals zu etwas bewegen, das sie für modischen Unfug hielt. Ihre seltsame Vorliebe für lange, tatsächlich sehr lange Spaziergänge waren ihrer Mutter ein Rätsel. Wenn sie wenigstens eines der Pferde nehmen und, wie es sich für eine Lady gehörte, eine nette kleine Runde durch den Hyde Park reiten würde. Fußmärsche, als nichts anderes empfand sie, was ihre Tochter tat, waren einfach unmöglich. Auch verdarben sie die Füße, machten sie breit wie die einer Straßenverkäuferin.
Sie liebte ihre Tochter nicht weniger als ihre vier Söhne, aber an grauen Tagen verübelte sie ihr, nicht die liebliche Schönheit geworden zu sein, um die sich die Söhne aus den besten Familien prügelten. Immerhin hatte Florence ihren Charme (an guten Tagen) und auch ihr volles, mahagonibraunes Haar geerbt. Wenn sie nur ihrer Zofe erlauben wollte, es ein bisschen extravaganter zu frisieren!
«Nun gut, meine Liebe», sagte sie milde, zupfte an der exquisiten Spitze ihres lachsfarbenen Negligés und seufzte ein zweites Mal, «hoffen wir auf Besserung. Vielleicht könntest du mit einer anderen Schneiderin
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