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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Gesichter an sich vorbeiziehen, schöne und hässliche, heitere und verschlossene – da war nichts Besonderes. Außer Johann Christian Bach vielleicht. Er war so anders als sein behäbiger älterer Bruder, wie auch ihrer beider Kompositionen sich stark unterschieden. Der Londoner Bach schuf heiterere, gefühlvollere und ganz der eleganten Welt zugewandte Werke. Als nach dem Konzert ein letztes Glas Wein gereicht wurde, hatte er ihr augenzwinkernd zugeraunt, sein Bruder habe ihm im letzten Jahr die etwas wirre Geschichte einer abenteuerlichen jungen Dame geschrieben, die auf dem Wandertheater lebe und sich ganz unpassend als Jägerin von Unholden, so habe Carl Philipp es ausgedrückt, betätige. Er freue sich, sie kennen zu lernen, oder ob es ein Zufall sei, dass sie den gleichen Namen trage? Dann hatte er gelacht und sich verabschiedet.
    Sie fröstelte trotz der warmen Nacht und kroch tiefer in ihr Schultertuch. Noch immer war auf den Straßen keineRuhe eingekehrt, die Stimmen und die Geräusche der Wagen verbanden sich in ihrem Kopf zu einer gleichförmigen Melodie mit der Wirkung eines Schlafliedes. Auch wenn sie nicht so schläfrig gewesen wäre, hätte sie kaum die Kutsche bemerkt, die ihrer Droschke bis in die Henrietta Street folgte.

KAPITEL 6
    «Danke, Mrs.   Tottle», sagte Rosina, «es ist schon spät für ein Frühstück, aber ich bin von gestern noch so satt, mir reicht wirklich ein Becher Kaffee.»
    «Das glaubt Ihr jetzt nur, Miss. Kaum seid Ihr um die Ecke, knurrt Euch der Magen. Ihr braucht ein gutes Frühstück, sonst verführt Euch der Hunger noch zum Kauf in diesen üblen Läden, die für ein paar Pennys gefährliches Zeug feilbieten, glaubt mir, das ist voller Gift, auch wenn es noch so gut riecht.»
    Mrs.   Tottle griff mit der Miene einer strengen Mutter nach dem Buttertopf, grub mit dem Holzlöffel eine ordentliche Portion heraus und ließ sie in den Porridge fallen.
    «Esst», sagte sie und schob Rosina die Schale über den Küchentisch zu.
    Rosina nahm noch einen Schluck Kaffee, den die Wirtin mit reichlich braunem Zucker verrührt hatte, und griff gehorsam nach dem Löffel. Der Kaffee war dünn, doch er duftete anregend nach Anis. Mrs.   Tottles nun folgender Vortrag über die Tücken billigen Brotes, für das die Bäcker schlechtes Korn verwandten und den Teig mit Knochenasche, Kalk und Alaun mischten, damit es schwer und weiß erscheine, und über das verdorbene Fleisch und die Abfälle aus den Schlachtereien, die in den schmuddeligenkleinen Garküchen in die Töpfe wanderten, machte Rosinas Appetit nicht größer. Doch das Porrigde war sahnig und köstlich, sie leerte die Schale bis auf den Grund. Mrs.   Tottle sah ihr mit Genugtuung zu und spendierte zur Belohnung einen zweiten Becher Kaffee.
    Die Wirtin der Becker’schen Gesellschaft war eine energische, freundliche und großzügige Frau. Da sie gerne ins Theater ging, seit ihre beiden Söhne groß genug waren, um am Abend ohne Aufsicht zu bleiben, war sie gerne bereit, selbst wandernde Komödianten zu beherbergen. Sie war die Ehefrau eines Steuermanns, der in der Vergangenheit gute Prisen gemacht haben musste, wie sonst konnten er und seine Frau ein solides Haus mit sechs Wohnungen von behaglicher Größe mitten in der Stadt besitzen? Manon vermutete in Mrs.   Tottle lieber ein reiche Erbin – wegen ihrer Sommersprossen und roten Locken von altem irischem Adel   –, die um der Liebe zu einem verwegenen Helden der Meere willen unter ihrem Stand geheiratet hatte. Leider erinnerte sich Gesine an leidvolle Erfahrungen mit zahllosen Wirtinnen und verbot ihrer Tochter strengstens, Mrs.   Tottle mit Fragen nach ihrer Vergangenheit zu belästigen. Insbesondere, weil es vielen Engländern überhaupt nicht gefiel, einer irischen Herkunft verdächtigt zu werden.
    «Könnt Ihr mir sagen, wie ich den Weg zur Ave Maria Lane finde, Mrs.   Tottle?», fragte Rosina, als sie den sauber abgeleckten Löffel neben die Schale legte.
    «Ave Maria Lane?» Mrs.   Tottles Augen blitzen neugierig. «Wollt Ihr etwas drucken lassen?»
    «Drucken? Warum denkt Ihr das?»
    «Weil die Ave Maria kurz vor St.   Paul’s liegt und die Straßen um die Kathedrale das Viertel der Druckereien,Buchverlage und Papierwarenhandlungen sind. Es gibt dort wunderbare Tapeten», sie legte aufseufzend ihr Kinn in die aufgestützte Hand, «sogar mit chinesischen Mustern. Wenn doch nur Mr.   Tottle endlich zurückkäme. Ständig laufe ich vergeblich zum Hafen. Er hat mir

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