Die englische Episode
schon vor zwei Jahren Tapeten für das Wohnzimmer versprochen, und diesmal helfen ihm keine Ausreden.»
«Ist es weit bis zur Ave Maria Lane?», erinnerte Rosina an ihre Frage. An diesem Morgen interessierte sie sich absolut nicht für Tapeten und säumige Steuerleute.
«Etwa eine Meile, für London ist das nicht weit.» Auch sei es einfach zu finden. Die Strand hinunter durch den Temple Bar, weiter die Fleet Street immer geradeaus und dann kurz vor der Kathedrale die Gasse auf der linken Seite. «Es gibt dort viele solcher kleiner Straßen, am besten fragt Ihr bei St. Paul’s noch einmal.»
Bevor Mrs. Tottle zu ihrer schönen Vision von tapezierten Räumen zurückkehrte, machte sich Rosina schnell auf den Weg. Sie hatte genug von Wagners Sucherei nach den Münzen, sie wollte endlich Bendix Hebbel finden.
Von der Covent Garden Piazza lief sie die Southampton Street hinunter und bog in die Straße mit dem befremdlichen Namen Strand ein, der daran erinnerte, dass die Themse in alter Zeit sehr viel breiter gewesen war. Sie blieb stehen und sah noch einmal zurück, um sich den Laden des Brillenmachers an der Ecke einzuprägen, und nahm sich vor, zumindest die Lage der wichtigsten Straßen von Wagners Stadtplan zu kopieren.
Der Lärm in der Strand war kaum geringer als auf der Piazza. Auch hier empfing sie ein schriller Chor von Stimmen in verschiedenen Sprachen und Dialekten, auch hier priesen Ausrufer Zitronen, frischen Fisch, Austern undalte Schuhe, heiße Pasteten und gebackene Bohnen, Punch und Judy-Puppen oder Singvögel in kleinen Käfigen an. Messerschleifer empfahlen ihre Dienste, die stets hastenden Sänftenträger forderten mit heiseren Stimmen rüde Platz.
In all das mischte sich das Rattern und Quietschen von Kutschen, Wagen und Karren, für die selbst diese breite Straße zu eng war, die Kutscher riefen sich wütende Beschimpfungen zu. London war ohne Zweifel die lauteste Stadt, die sie je erlebt hatte.
Der Tag war warm, durch steil abfallende Treppen und Gassen wehte eine leichte Brise den Geruch des nahen Flusses herauf. Die Verlockung, zum Wasser hinunterzulaufen und sich mit dem weiten Blick über den Fluss von der Enge der Straßen zu erholen, war groß, doch sie hatte es eilig. Die Schaufenster hielten sie schon genug auf. Hier seien die besten Läden in ganz London, hatte Mrs. Tottle versichert, auch wenn die feinen Herrschaften neuerdings die in der Oxford Street vorzögen, was aber nur eine neue Mode sei, die gewiss bald vorübergehe.
Rosina tastete nach den Münzen in ihrer Rocktasche, ganz und gar normales englisches Geld, und beschloss, sie auf ihrem Rückweg bis auf den letzten Penny auszugeben. Für ein neues Brusttuch vielleicht. Oder für Schuhe? Dafür würde es kaum reichen, aber für ein Stück indischen Kattun. Ein kleines nur, gerade genug für einen dieser runden Beutel, wie ihn die eleganten Damen in Paris an einer Kordel um ihr Handgelenk trugen.
Die ganze lange Straße war von Läden gesäumt, fast jeder zeigte seine Waren hinter blank geputzten großen Fenstern, hübsch angeordnet und am Abend von hellen Lampen beleuchtet. So etwas hatte sie nie zuvor gesehen.Kurz vor dem Temple Bar, hinter dem die Fleet Street begann, versuchte sie die Straße zu überqueren. Der steinerne, wie ein kleines Stadttor anmutende Bogen bedeutete die Grenze zwischen dem königlichen Westminster und der bürgerlichen City. Seit es auf der London Bridge keine Häuser und Tore mehr gab, wurden die auf eiserne Lanzen gespießten Köpfe der Gehenkten auf dem Bogen zur Schau gestellt. Heute waren die aufragenden Stangen leer, die Männer, die am Fuß des Bogens für einen halben Penny Fernrohre vermieteten, machten keine Geschäfte.
Die Röcke gegen den Unrat gerafft, wartete sie am Rand der Straße, irgendwann musste sich doch eine Lücke in dem Strom der Reiter und gefährlich schnell dahinrollenden Wagen öffnen, als jemand an ihrem Ärmel zupfte. Eine kleine schmutzige Hand streckte sich ihr entgegen, sie sah in ein schmutziges Gesicht, auf einen Mund, der mehr Lücken als Zähne aufwies. Das dünne Kind sprach unverständliche Worte, doch die offene Hand brauchte keine Erklärung. Sie ließ einen halben Penny hineinfallen und hoffte, er werde für ein halbes Brot reichen. Blitzschnell schlossen sich die Finger um die Münze, und das Kind huschte in die Dunkelheit einer engen Gasse.
Rosina sah zu den Giebeln hinauf, die Häuser waren sehr alt, auch ein bisschen krumm, aber keines war
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