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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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sehr, sechs Verse braucht ein ordentliches Lied mindestens. Dann kann ich den einen oder anderen noch wiederholen, am besten die Zeilen mit der Bluttat, schon sind es zehn und alle sind zufrieden.»
    Zögernd wurden an den anderen Tischen die Gespräche wieder aufgenommen. Wer gerade erst seine Mahlzeit bekommen hatte, aß schneller, denn es war kaum jemand in der Taverne, der den Bänkelsänger nicht kannte und wusste, dass er spätestens in einer halben Stunde auf der Piazza stehen und die ganze wunderbar schreckliche Geschichte vortragen würde.
    «Da steht auch etwas von Haar wie von der Morgensonne beschienen oder so ähnlich», sagte Rosina. «Ihr habt es durchgestrichen, aber das kann man gut verwenden. Am besten schon vor der Strophe mit dem Messer. Heißt das, sie hatte rotblonde Haare?»
    «Wie reines Rotgold, sagt mein   … habe ich gehört. Fein gesponnene Rotgoldfäden. Ich wusste gar nicht, dass so was auch auf dem Kontinent wächst. Ich dachte immer, nur bei uns und in Irland.»
    «Und die seidenen Kleider?», fragte Rosina beharrlich weiter. «Wenn sie so ärmlich wohnte, sind die doch seltsam.»
    «Sag ich doch. Aber ehrlich gesagt, so ganz ärmlich kann sie nicht gewesen sein. Weiß der Teufel, warum sie sich in dem Loch in der Half Moon verkrochen haben, sie und ihr Kerl. Aber wir sind in London, Miss, da fragt keiner. Hier gibt’s jede Menge Leute, die gut daran tun, sich zu verkriechen für eine Weile. Jede Menge Volk vom Kontinent, dem es da drüben zu heiß wurde. Aber das setzen wir besser nicht in die Verse. Die Leute ham’s lieber, wenn so ’n totes Kind arm und unschuldig ist. Schön muss auch immer sein. Was wollte ich sagen, ach ja, nicht so ärmlich. Der Constabler von den Runners aus der Bow Street, den sie heute Morgen gerufen haben, der hat mir», er ließ seinen Blick durch den dämmerigen Raum flitzen und beugte sich zu Rosina und Vinstedt vor, «also er sagt, das Mädchen hatte zwei Münzen in ihrer Bibel. Da denkt ein christlicher Mensch doch gleich an Moses und Aaron, goldenes Kalb, Ihr wisst schon. War kleines und altes Zeug, aber eine war aus reinem Gold, und das ist nicht erfunden.»
    Diesmal war Mr.   Marlowe mit der Reaktion der jungen Miss zufrieden. Nicht dass sie viel zu dem Gold in der Bibel der Toten gesagt hätte, aber ihre Augen verrieten alles. Gold wog eben schwerer als Blut.
    Mr.   Vinstedt indessen schien unberührt. Ein wahrer Gentleman. Er zog seine Taschenuhr hervor, murmelte etwas davon, wie rasch die Zeit doch verrinne, und verabschiedete sich, nichts zurücklassend als die Worte Erpresser und Mädchenfresser. Und einen Hauch Lavendelduft.
    Als er die Taverne verließ, sah Titus ihm nach. Für einen Mann, den es verlangte, in seiner Heimatsprache zu reden, war Vinstedts Mund sehr schweigsam gewesen. Und seine Augen sehr kühl und wachsam.

KAPITEL 7
    «Danke, Molly. Und zum Frühstück möchte ich nur Tee und ein wenig Toast.» Lady Florence Wickenham betrachtete ergeben ihr Spiegelbild. Sie hätte besser aufpassen und rechtzeitig protestieren sollen, während ihre Zofe sie frisierte. Unter dem von einem gekräuselten Nichts aus Spitze gekrönten Turm von Haaren, wie es die Modekupfer aus Frankreich zeigten, glich ihr Gesicht dem der Äffchen auf den Jahrmärkten. Molly war stolz auf ihre Frisierkünste und würde furchtbar betrübt sein, wenn sie gleich begann, daran herumzufingern. Mindestens bis nach dem Frühstück musste sie durchhalten.
    «Sehr hübsch», sagte sie und tastete behutsam nach dem Miniaturhäubchen hoch über ihrer Stirn, «wirklich. Weißt du, ob Lord Wickenham schon wach ist?»
    «Ja, Mylady, das ist er.» Molly beugte sich tief über den Kasten mit den Kämmen, Haarnadeln und allerlei schmückendem Beiwerk, das aus dem Haar der Damen erst fashionable Frisuren machte. «Seine Lordschaft ist schon sehr früh aufgestanden und ausgeritten.»
    «Schon sehr früh?» Das hatte sie nicht erwartet. Er hatte sie nach der Abendgesellschaft in ihren Teil des Hauses begleitet, ihr eine gute Nacht gewünscht und sich in seine Räume zurückgezogen. Gleich nachdem Molly ihr beim Auskleiden geholfen hatte und zu Bettgegangen war, hatte sie im Flur und dann auf der Treppe seine leisen Schritte gehört. Sie hatte hellwach auf der Kante ihres Bettes gesessen und darauf gewartet, dass er zurückkam. Aber er war nicht zurückgekommen, sondern ausgegangen, mitten in der Nacht.
    «Hat George gesagt, wann er ihn zurückerwartet?», fragte sie, ohne

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