Die englische Episode
Molly anzusehen.
«Nein, Mylady. Das heißt, eigentlich ja, er hat gesagt: nicht vor morgen Abend. Gewiss will er nur in Wickenham nach dem Rechten sehen, und sicher hätte er sich verabschiedet, wenn es nicht so früh gewesen wäre. Er wollte Euch nach dem langen Abend mit den vielen Gästen nur nicht wecken. Ich werde George sofort fragen, bestimmt hat Seine Lordschaft eine Nachricht für Euch hinterlassen.»
«Danke, Molly, das brauchst du nicht. Er hat mir gestern gesagt, dass er heute sehr früh aufbrechen wird. Ich hatte es nur vergessen.»
Das war eine Lüge, wie beide sehr wohl wussten, sie gehörte zu dem Spiel, zu dem sie sich verpflichtet fühlten. Florence hatte das Mitgefühl in der Stimme ihrer Zofe gehört, bei keinem anderen ihrer Dienstboten hätte sie es ertragen, so wie es auch niemand außer Molly wagte, welches zu zeigen.
Sie war Florence’ Zofe, seit sie beide sehr junge Mädchen gewesen waren, sie vertrauten einander, wie es sonst nur Freundinnen taten; weil dennoch beide nie die Grenzen ihres Standes überschritten, blieb ihr Verhältnis in guter Balance. Das war vor allem Mollys Verdienst, die seit Florence’ Heirat sogar darauf bestand, sie – selbst wenn sie allein waren – nicht mehr mit dem vertraulichen Florence anzusprechen.
Molly konnte sie jede Frage stellen, selbst nach dem Aufenthalt ihres Ehemannes, den sie doch zuallererst selbst wissen sollte. Molly würde sich auch nicht mit dem übrigen Personal darüber amüsieren, dass die junge Lady mal wieder keine Ahnung hatte, was ihr Ehemann trieb.
«Wollt Ihr nicht lieber Schokolade zum Frühstück, Mylady?»
«Darf ich dich daran erinnern, Molly, dass du mich wenigstens Lady Florence nennen möchtest. Ich wäre dir wirklich dankbar. Sonst fühle ich mich wie Williams Mutter, und das ist ein beschränktes Vergnügen. Noch habe ich keine Gicht, meine Galle tut brav ihren Dienst und mein Stammbaum ist auch der alte geblieben: schwer an Guineen, leicht an Namen.»
«Gewiss», Molly lächelte, «Lady Florence. Ich muss mich nur ab und zu daran erinnern, wie Ihr mich damals gezwungen habt, Euch über die Mauer zu helfen, als Mrs. Cutler strikt verboten hatte, ‹mit dem Pöbel› die Seiltänzerin über der Themse anzusehen.»
«Ja, das war ein gelungenes Unternehmen. Ich war sehr enttäuscht, dass sie nicht in den Fluss fiel.» Endlich lachte Florence. «Das haben wir wirklich gut gemacht. Mama hat sich grün geärgert, als die Herzogin von Northumberland ihr von dem Spektakel vorschwärmte und sie konnte nicht mitreden, weil sie der ganzen Familie verboten hatte, es sich anzusehen. Denkst du, wir sollten wieder mal über die Mauer steigen, Molly?»
«Das macht nicht viel Spaß, wenn man selbst die Hausschlüssel in der Tasche hat», sagte die Zofe vernünftig. Sie dachte stets geradeaus und hatte wenig Sinn für Metaphorik.
Florence nickte langsam. «Sicher hast du Recht. Wenn es dich freut, bring mir Schokolade. Und bitte, Molly, ich weiß, du meinst es gut, aber keine Fragen an George wegen Lord William.»
Die Schokolade war heiß und bittersüß, und Florence fand, dass Molly auch hier Recht gehabt hatte. Gewöhnlich zog sie am Morgen den feinen grünen Tee vor, weil er sie erfrischte und ihr die Vorstellung der weiten Reise gefiel, die er von dem geheimnisvollen China auf der anderen Seite des Globus gemacht hatte, bevor er den St. James Square erreichte.
An diesem Morgen jedoch wollte sie nicht an weite Reisen denken. Die waren eine angenehme Zerstreuung, doch fanden sie stets nur im Kopf statt und in Zeiten der Not halfen sie wenig. China war fern, und tatsächlich war sie überhaupt nicht sicher, ob sie es wie ihr jüngster Bruder als ein Vergnügen empfände, monatelang auf einer Nussschale von Schiff eingesperrt zu sein. Und das, nur um ein Land zu erreichen, in dem sie wieder eingesperrt sein würde, und zwar in einem Haus voller englischer Sitten, umgeben von einem Garten mit hohen Mauern und Zäunen, damit all das Fremde, das da draußen so abenteuerlich wartete, von der Lady fern gehalten wurde.
Wenn sie Aufregung brauchte, konnte sie die auch hier finden. Zum Beispiel die Aufregung des Kampfes um ihre Ehe. Oder – ein wunderbarer neuer Gedanke – um ihre Freiheit. Die Geschichte der Tochter von Madame Kjellerups Neffen, die einfach ihren stupiden Ehemann in Lissabon verlassen hatte, um mit einem Freibeuter durchzubrennen, hatte ihre Phantasie wie ihren Mut ungemein beflügelt.
Irgendjemand hatte
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