Die englische Episode
vor Knochenmehl und Kalk in den Teigtrögen der kleinen Bäckereien der armen Viertel verdarb ihr den Appetit. Sie hörte eilig heranschlurfende Schritte, und als sie sich umwandte, hinkte eine gebeugte Frauengestalt schon wieder davon. Das Brötchen war verschwunden. Es war gedankenlos gewesen, das klebrige Gebäck auf die von Abfällen und Kot bedeckte Straße fallenzu lassen, anstatt es zu verschenken, nachdem es seinen eigentlichen Zweck erfüllt hatte.
Mr. Marlowe hatte nur den Namen der Straße gewusst, nicht aber, in welchem Haus der Mord geschehen war. Er hatte auch gewusst, dass das Mädchen nur etwa zehn Tage in der Half Moon Street gewohnt hatte, und zwar die meiste Zeit allein. Wohl habe ihr Mann sie gebracht und auch die Miete bezahlt – ‹Klar, im Voraus, was denn sonst?› –, aber er sei meistens in Geschäften unterwegs und die junge Frau allein gewesen, was ihr wirklich nicht gefallen haben konnte. Nun sei der Kerl natürlich verschwunden, auf Nimmerwiedersehn.
Rosina wandte ein, womöglich habe das Mädchen vor lauter Alleinsein andere Bekanntschaften gesucht und sei an einen echten Unhold geraten, der sie dann umgebracht habe. Mr. Marlowe schüttelte entschieden den Kopf. Nein, erklärte er, es habe ihn zwar niemand kommen sehen, aber das junge Paar im Nachbarzimmer habe spät in der Nacht Schritte auf der Treppe gehört und bei dem Streit, der gleich darauf begann, seine Stimme erkannt. Jedenfalls sei in Deutsch gestritten worden. Dann sei es still gewesen, man habe schon an Versöhnung geglaubt, doch gleich darauf sei jemand eilig die Treppe wieder hinunter und aus dem Haus gelaufen. Am nächsten Morgen, als die junge Frau ihre Nachbarin besuchen und trösten wollte, habe sie die Tote gefunden und gleich so schrecklich gezetert, dass die ganze Straße zusammenlief.
Das Mädchen in der Bäckerei am Anfang der Half Moon Street kannte all diese Einzelheiten noch nicht, trotzdem wusste sie genau, nach wem Rosina fragte und in welchem Haus der Straße die Tote gefunden worden war.
«Wir hatten dieser Tage zwei Tote, Miss, bestimmt meint Ihr nicht Mrs. Putneck aus dem Altkleiderladen. Die ist nur an der Schwindsucht gestorben, so was kommt ja alle Tage vor. Aber die andere, die junge, die hat einer ermordet, was auch vorkommt, aber nicht so oft. Es ist ein großes Pech für Mr. Dibber. Wer hat schon gern die Constablers im Haus, besonders wenn man in seiner Schenke so übles Zeug verkauft, das längst nicht seinen halben Penny wert ist.»
Sie wolle nichts gesagt haben, aber was der dicke Dibber im
King’s Belly
als Gin ausschenke – Gin sei wohl auch drin, sicher, aber mehr Wasser und irgendwas, das trunken mache und scharf schmecke, nichts als ein trüber Alchemistensaft. Wenn die Miss sich ein wenig erfrischen wolle, empfehle sie das
Lamb and Star
. Dort sei der Gin bekömmlich und sättigend wie Brot und den halben Penny doppelt wert, das wisse sie genau, schließlich gehöre das
Lamb and Star
ihrer Tante. Und überhaupt wundere sie sich, dass Dibber die Tote nicht gleich fortgeschafft habe. In der Themse hätte sie keiner so schnell gefunden, und wenn, hätte keiner gewusst, woher sie gekommen sei, was für Dibber doch von großem Vorteil gewesen wäre, wer lässt schon gerne eine Ermordete in seiner Wohnung finden.
«Im Fluss schwimmen doch oft Leichen, da fällt so eine gar nicht auf. Springen ja auch viele von der London Bridge, wusstet Ihr das? Meistens Bankrotteure, aber gottgefällig ist das nicht, ich denke …»
An dieser Stelle gelang es Rosina, den Redefluss des Mädchens, das offensichtlich an diesem Tag schon die Tante mit dem besseren Gin besucht hatte, zu unterbrechen und zu fragen, ob Mr. Dibbers Wohnung und auchdie, in der die Tote gefunden worden war, über dem
King’s Belly
liege.
«Klar», sagte das Mädchen, erstaunt über eine so belanglose Frage, «Dibber wohnt über der Schenke, mit seiner Frau, es ist schon seine dritte, stellt Euch vor!, und den sieben Kindern. Darüber sind noch zwei Etagen, da wohnen die Untermieter. Ich glaub nicht, dass er das Mordzimmer so schnell wieder vermieten kann, wer will in einem Bett liegen, wo eine …»
Da hatte Rosina rasch einen Gruß gemurmelt, ihr Brötchen genommen und war aus dem Laden geflohen.
Die Half Moon Street lag nur wenige Minuten von der Henrietta Street entfernt, sie war nicht mehr als eine düstere Gasse, die sich in der zweiten Hälfte noch einmal verengte. Kurz davor zeigte ein
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