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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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erzählt, die vornehmen Chinesen umwickelten die Füße ihrer kleinen Töchter so fest, dass sie verkrüppelten und ein normales Ausschreiten unmöglich machten. Ein Mädchen ohne diese Trippelfüßchen, so hieß es, gelte dort als grob und unweiblich und habe keine standesgemäßen Heiratschancen. Sie fand diese Sitte barbarisch, nun dachte sie, dass womöglich jedes Volk, auch das zivilisierteste, auf irgendeine Weise verkrüppelnde Sitten pflegte. Besonders, wenn es um Töchter und Ehefrauen ging.
    Sie mochte den Gedanken nicht, auch schien es ihr müßig, darüber zu lamentieren. Sie hielt nun schon so lange still, wie es von ihr erwartet wurde. Doch vielleicht war sie auch nur eine durch und durch kleinmütige Person. Hatte sie jemals probiert, wie weit sie gehen, was sie unternehmen konnte? War ihre Angst nicht viel zu groß, von der Gesellschaft, der sie angehörte, missachtet zu werden, wenn sie nur ein wenig kühner handelte?
    Mrs.   Kjellerup würde sich gewiss nicht in ein solches Leben pferchen lassen. Aber für sie war es leichter, sie war eine alte Dame und man konnte sie einfach exzentrisch nennen, wenn sie ‹auf seltsame Ideen› kam. Es war ungerecht, dass man erst alt werden musste, um exzentrisch sein zu dürfen. Oder eine große Künstlerin sein wie die Frauen auf der Oper oder in den Theatern, wie die gefeierte Malerin Miss Kauffmann, der man sogar ihren betrügerischen Gatten und die Annullierung der Ehe verzieh. Bei ihr, Florence, würden die Leute nur hämisch tuscheln und an ihrem Verstand zweifeln, wenn sie aus der fest geschlossenen Reihe der Konvention tanzte.
    ‹Die liebe Florence ist so wunderbar vernünftig›, hattesie neulich eine Freundin ihrer Mutter einer andern zuflüstern hören. Es lag weniger an seinem Inhalt, dass sie diesen Satz nicht vergessen konnte. Es waren viel mehr die Betonung der Worte und die Mienen der Damen über ihren Fächern gewesen. Mit vernünftig, das hatte sie in jenem Moment begriffen, meinten sie nichts als langweilig, dumm, reizlos.
    Das stimmte nicht. Sie war weder das eine noch das andere. Sie war keine zarte Elfe, die selbst im Kerzenlicht aussah, als habe sie gerade die Schwindsucht ereilt, was seltsamerweise allgemein als reizend empfunden wurde. Sie sah leider ziemlich gesund aus, auch die Neigung zu Ohnmachten fehlte ihr völlig. Vielleicht war ihre Nase ein wenig spitz, nun ja, eher zu kräftig, doch sie war um nichts unansehnlicher oder weniger graziös als die meisten anderen jungen Damen. Deren Gesichter röteten sich nach fünf Tänzen ebenso wie ihres, besonders nach den schottischen, und wenn sie an die Töchter des Grafen Dagenskøld dachte, die allgemein als Schönheiten galten, obwohl sie sehr munter waren und die schönsten Apfelbäckchen   …
    Zornig schob sie ihren Frisierhocker zurück und sprang auf. Was für dumme, überflüssige Gedanken. Egal, was sie war, was andere waren oder dachten, die Zeit der ‹vernünftigen Florence› musste vorbei sein. Und wenn der hochgeborene Lord Wickenham ihr nicht vertraute, wenn er nicht mit ihr redete und auch seit Monaten die Tür zwischen ihren Schlafzimmern beharrlich verschlossen hielt, würde sie doch nicht auf ihren Seidenkissen sitzen und sich grämen.
    ‹So leicht, Mylord, geht es nicht›, dachte sie und begann in langen Schritten das Zimmer zu durchmessen.‹Ich bin kein alter Tafelaufsatz, den man gut poliert auf den Tisch stellt und vergisst. Wenn du mir nicht sagst, was du tust, werde ich es eben selbst herausfinden. Und dann   …›
    Ihr Blick fiel auf das Bild in dem großen Ankleidespiegel, und wäre das Gefühl der Wut nicht so erstaunlich belebend gewesen, hätte sie sich erschreckt. Ihre Augen leuchteten schwarz wie arabischer Onyx, die Schultern waren hochgezogen, die Hände zu Fäusten geballt.
    «Gut», sagte sie laut, «so ist es gut», dehnte die steifen Finger und begann zu lachen. Es war kein vergnügtes Lachen, sondern ein sehr entschlossenes.
    Und nun? Anspannen lassen und nach Wickenham fahren? Schon bevor sie die London Bridge erreichte, würde ihre Mutter davon erfahren und ihr ihren Groom hinterherjagen. Auch war es kindisch, William einfach nur nachzurennen. Und sinnlos. Sie wollte gewinnen, also brauchte sie eine Strategie. Es musste ihr nur noch eine einfallen.
    ***
    Rosina brach das süße Brötchen auseinander, musterte skeptisch die beiden Hälften und ließ sie auf die Straße fallen. Sie war nicht hungrig, und der Gedanke an Mrs.   Tottles Warnung

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