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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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ihr zugedachte Rolle zu spielen. Auch wolle sie sich beeilen, schließlich sei es schon recht sommerlich, sie hoffe, dieser Richter habe einen kühlen Keller für die, nun ja, für die armen Opfer. Doch entweder war es ihr nicht gelungen, ihrer Freundin Cilly zu entkommen, oder – und das war wahrscheinlicher – sie hatte den Richter gestern nicht mehr angetroffen. Sicher hätte sie sonst noch am Abend ein Billett geschickt oder wäre selbst in der Henrietta Street vorgefahren. Was ebenfalls wahrscheinlicher war.
    Erst als Rosina in Mrs.   Cutlers kleinem Salon noch einmal,nun schon zum dritten Mal, von ihren Erlebnissen berichtete, fielen ihr einige Worte ein, die in Dibbers Gebrüll beinahe untergegangen waren: ‹Erst der Herr Cousin, jetzt die Cousine   …› Wen hatte er gemeint? Wer war vor ihr, der vermeintlichen Cousine, in der Half Moon Street gewesen und hatte sich – offenbar mit ebenso geringem Erfolg wie sie selbst – als Almas Cousin ausgegeben? Für einen Moment glaubte sie, auch diese Worte könnten zu den Wirren ihres Traums gehören. Aber nein, die hatte sie wirklich gehört.
    Das Glöckchen in dem Dachreiter der kleinen Kirche schlug viermal. Sie war immer noch hellwach, so glitt sie aus ihrem Bett und öffnete das Fenster. Um diese Stunde war selbst London still, als hielte die große Stadt den Atem an, und sei es auch nur für die eine Stunde, bis die ersten Wagen zu den Märkten ratterten. Auch wenn der klebrige Geruch nach Kohle, brackigem Wasser und zu vielen Menschen jetzt noch über der Stadt lag, schmeckte die Luft beinahe frisch. Der Himmel ließ schon die Dämmerung ahnen, nur noch wenige verblassende Sterne glitzerten, der Mond musste schon untergegangen sein.
    In der Nacht hatte es ein wenig geregnet, die meisten Grabsteine standen in dünnen Nebelschwaden. Es war ein friedliches Bild, doch als sie genauer hinsah, hielt sie verblüfft den Atem an. In England, hatte Madame Augusta neulich belustigt erzählt, gebe es so viele Gespenster wie alte Gemäuer. Sie bedauere, dass das Cutler’sche Haus zu jung sei, um eines zu beherbergen. Das im Tower solle hin und wieder Leute die Treppen hinunterstoßen, auch im Drury Lane Theatre gehe eins um, ganz in vornehmer grauer Kleidung, und zeige an, ob ein Stück Erfolghaben werde oder nicht. Rosina wusste nicht genau, ob sie an herumgeisternde Wesen glaubte, bisher war ihr keines begegnet, sie wusste auch nicht, ob das, was zwischen den Grabsteinen herumschwebte, eines war. Allerdings sah es ganz danach aus. Nun bewegte es sich – tatsächlich nahezu schwebend – auf den Mittelweg des Friedhofes zu, löste sich aus den Nebelfetzten und hob den Kopf – immerhin hatte es seinen noch   –, und im nächsten Moment griff Rosina nach ihrem Schultertuch, riss die wollene Decke von ihrem Bett und flitzte, so rasch es auf leisen Sohlen ging, die Treppen hinunter, aus dem Haus und um die Ecke in die Bedford Street.
    Wie hatte Matti gesagt? Sie fürchte, das Kind sei ein wenig somnambul und hoffe, das werde den jungen Ehemann nicht überfordern. Heute Nacht gewiss nicht, dachte Rosina grimmig, von Wagner war nichts zu sehen gewesen, er lag zweifellos in seinem Bett und schlief den Schlaf des Gerechten.
    Die Friedhofspforte stand weit offen, sie lief auf den Weg und versuchte in der dunstigen Dunkelheit etwas zu erkennen. Von ihrem Fenster im zweiten Stock hatte sie Karla genau gesehen. Und wenn es gar nicht Karla gewesen war? Wenn sie barfuß und im Nachtgewand auf dem nächtlichen Friedhof stand, nur weil die Nacht etwas vorgegaukelt hatte, das sie an Mattis besorgte Worte denken ließ?
    Die weiße Gestalt war verschwunden, aber bewegte sich da nicht etwas? An der hinteren Mauer schon nahe der Kirche ragte ein dunkler Schatten aus dem Nebel und entfernte sich rasch. Das konnte nicht Karla sein. Wo war sie? Womöglich – wie Wagner – in ihrem Bett in tiefem Schlaf.
    «Karla?», rief sie leise, doch es blieb still. Die dunkle Gestalt verschwand, geräuschlos und gleitend, als verschlucke sie die Nacht. Und wenn er Karla mitgenommen hatte? Sie dachte nicht einmal daran, dass es eine Frau gewesen sein könnte. ‹Geh nicht allein›, hörte sie Helenas Stimme streng in ihrem Kopf, doch nun war wirklich keine Zeit, schlagkräftige Hilfe zu holen. Rasch huschte sie zwischen den Grabsteinen der verschwundenen Gestalt nach, stolperte im Lauf über etwas Hartes, umklammerte einen der bemoosten Steine, bevor sie auf den Boden glitt – und sah in ein

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